Dornroeschenmord
hatte sie den Satz ausgesprochen, schwiegen die Männer betreten und versenkten ihre Blicke in die Bierkrüge. Einer räusperte sich laut, stand auf und zog seinen dicken Parka über. Mit den Knöcheln klopfte er auf den Tisch: »Also nix für ungut, aber ich geh jetzt lieber. Mei Frau wart bestimmt schon auf mich.«
Sieh mal einer an, dachte Mandy, als auch ein zweiter seine Jacke überzog. »Wart auf mich, Hartmut, ich geh gleich mit.«
»Hey, was ist los mit euch?« fragte Mandy und schüttelte unwillig den Kopf. »Keine Lust auf Schnaps oder keine Lust auf Richard Grasser?«
»Ach weißte, Mädle«, wagte sich einer plötzlich vor, »man soll die Toten ruhn lassen …«
Sein Nachbar zur Linken unterbrach ihn unsanft: »Verbrenn dir doch ned das Maul, Helmut«, sagte er barsch und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas.
Mandy blickte gespannt von einem zum andern. So schnell gab sie nicht auf: »Wieso tot? Richard Grasser ist quicklebendig. Ehrlich. Ich habe ihn erst vor ein paar Tagen gesehen.«
Die Männer schwiegen beharrlich. In ihren Gesichtern zeigten sich unverhohlenes Mißtrauen und Angst. Keiner sah dem anderen in die Augen.
»Was war denn nun los mit Grasser?« versuchte sie es noch mal auf die joviale Art. »Hat er beim Kartenspiel gemogelt?« Sie sah einen nach dem anderen an, doch niemand erwiderte ihren Blick. »Tja, Männer, ich dachte, ihr würdet alle eine gute Figur vor der Kamera machen. Aber wenn ihr weiter so schweigt, hat das ja wohl wenig Sinn. Der Film über Grasser wird übrigens bundesweit ausgestrahlt. Wäre da ein kleiner Auftritt nicht eine tolle Reklame für euer Dorf?«
»Als ob das was Besonders für uns wär«, kam es schroff. »Glaubst, mir leben hier aufm Mond? Das Fernsehen hat scho jedes Gräsle und jeden Specht hier in der Gegend gefilmt. Also, such dir ein paar andere Dumme.«
Erleichtert über die heftige Widerrede ihres Kameraden solidarisierten sich die Männer untereinander und murmelten zustimmend. Nur der Mann mit dem schütteren grauen Haar und den hellen Augen, der schon beim Kartenspielen eher zurückhaltend gewesen war, schwieg. Jetzt war sein Gesicht von abstoßender Kälte.
Mandy beobachtete ihn aufmerksam und überlegte für einen Moment, ob sie ihn gezielt ansprechen sollte. Doch sie entschied sich dagegen. Ihr Instinkt sagte ihr, daß nichts und niemand diese Männer jetzt erweichen könnte. Langsam erhob sie sich.
»Tja, wenn das so ist, dann wird es wohl wirklich Zeit für mich zu gehen. Schade, ich dachte, ihr könntet mir weiterhelfen.« Diesmal versuchte keiner der Männer, sie aufzuhalten.
Am nächsten Morgen stand Mandy zeitig auf. Sie fröstelte, als sie aus dem Fenster blickte. Während in München der Herbst wie ein rotgoldener Karnevalszug durch die Straßen rauschte, trug er hier die Maske eines grauen, zottigen Tieres.
Sie ging hinunter in den kahlen, ungeheizten Frühstücksraum. Ein einzelner Tisch war gedeckt, und nur die rot-weiß karierten Decken auf den groben Holztischen verliehen dem Zimmer ein wenig Gemütlichkeit.
Mißmutig bestellte sie sich eine Tasse Pfefferminztee. Sie trank das heiße Gebräu in großen Schlucken, und gleich wurde ihr wärmer. Dann ging sie noch einmal ihre Notizen vom vergangenen Abend durch. Viel war nicht dabei herausgekommen. Zumindest nichts, was ihren Tagessatz wert gewesen wäre. Als nächstes mußte sie beim Einwohnermeldeamt und beim Pfarramt weitere Informationen über Grasser einholen.
Doch bei ihren Überlegungen wurde sie immer wieder durch eine Bemerkung des vergangenen Abends abgelenkt: Was hatte der Mann nur mit dem Satz gemeint: Tote solle man ruhen lassen?
Beim Einwohnermeldeamt wurde Mandy schnell fündig. Nachdem sie sich durch mehrere verstaubte Ordner aus dem Jahr 1948 gewühlt hatte, stieß sie schließlich auf eine vergilbte Kopie von Grassers Geburtsurkunde, die auf den 27. Januar desselben Jahres ausgestellt war.
Der Name seiner Mutter lautete Franca Grasser, der seines Vaters wurde nicht genannt. Richard Grasser war also ein uneheliches Kind – und das in der damaligen Zeit. Vielleicht war er der Sohn eines amerikanischen Soldaten, der die Frau mit dem Kind sitzengelassen hatte?
Mandy kopierte die Urkunde und erkundigte sich dann bei einer Verwaltungsbeamtin, wie es mit Franca Grasser weitergegangen sei. Nachdem sie eine Gebühr von fünfundzwanzig Mark bezahlt hatte, erfuhr sie, daß Grassers Mutter genau einen Monat nach der Geburt des Kindes verstorben war.
Weitere Kostenlose Bücher