Dornroeschenmord
Plötzlich hatte seine Stimme wieder ihre normale Tonhöhe, und fast schien es, als habe er alles Vorherige gar nicht ausgesprochen.
»Die Alliierten waren grad im Abzug, eigene Gerichte harn wir noch ned wieder gehabt. Glauben Sie ernsthaft, daß in so einer wirren Zeit irgendein Ami nach einem abgebrannten Pfarrhaus gefragt hat? Als die am Morgen nach dem Brand ins Dorf gekommen sind, waren längst alle Spuren beseitigt. Das ist noch gleich in der Nacht geschehen. Irgendein Militärpolizist hat grad noch die Namen der Toten aufgeschrieben, und dann war die Sache für die erledigt.«
»Hat sich die Polizei denn nicht danach erkundigt, wie es überhaupt zu dem Brand gekommen ist?« wollte Mandy wissen.
»Natürlich. Ein Ofen sei explodiert, harn se als offizielle Brandursache angegeben, soweit ich mich erinnern kann. Und damit warn die Amis zufrieden. Von denen hat sich doch ned einer wirklich für die Toten interessiert. Leichen«, er lachte meckernd, »harn die im Krieg doch scho genug gesehen. Die wollten heim zu ihren Frauen und Kindern.«
Plötzlich sah Gebauer müde aus. Seine Arme lagen schlaff auf der Sessellehne, und sein Kopf war auf die Brust gesunken. Mandy stand auf und zog ihre Jacke über.
»Vielen Dank, daß Sie mir alles erzählt haben.« Sie hielt einen Moment inne. »Sie tun mir aufrichtig leid. Ihr Leben muß elendig gewesen sein.« Sie konnte den Haß, den sie empfand, nicht mehr verbergen und schützte sich mit Ironie.
Gebauer schien das nicht einmal zu merken. Er trank noch einen Schluck Tee und sagte: »Sie sind zu jung, um was vom Schicksal zu verstehn. Aber keine Angst, es holt Se scho noch ein.«
Auf ihrem Weg zur Autowerkstatt kam Mandy am Pfarrhaus vorbei. Es war ein Bau, der Mitte der fünfziger Jahre entstanden sein mußte. Der Nebel hatte sich inzwischen gelichtet. Ein Sonnenstrahl durchbrach zaghaft die letzten Dunstschleier und ließ das Gebäude in einem silbrigen Licht erstrahlen.
Sie blieb stehen und blickte sich um. Das war die Stelle, an der sich vor fünfzig Jahren alles abgespielt hatte. Ein schmiedeeisernes Tor führte zum Pfarrgarten. Auf dem Rasen war das Laub ordentlich zusammengerecht worden. Alles wirkte friedlich und gepflegt – nichts erinnerte mehr an das Inferno, das sich hier ereignet hatte, und an die Menschen, die darin umgekommen waren.
Mandy holte ihr Auto in der Werkstatt ab und fuhr nach Willmers. Während Doris Day »In the street where you live« sang, geisterten vergessene Schatten durch Mandys Kopf.
Das Waisenhaus lag außerhalb des Ortes und war von einem riesigen Garten umgeben. Mandy klingelte an der Pforte, und eine junge Nonne öffnete ihr. In wenigen Worten erklärte Mandy, worum es ging, doch die Frau schien ihr nicht weiterhelfen zu können. Von einem Waisenjungen namens Richard Grasser hatte sie noch nie gehört.
»Wissen Sie was«, sagte sie, »wir fragen Mutter Alberta. Sie ist schon seit fast sechzig Jahren hier.«
Sie führte Mandy durch die langen, kahlen Flure, in denen es nach Bohnensuppe und Desinfektionsmitteln roch. Durch eines der großen Fenster konnte Mandy in den Garten sehen, in dem kleine Kinder Fangen spielten. Sie waren alle zwischen fünf und acht Jahre alt. Mandy dachte an ihre eigene sorglose Kindheit und war froh, daß sie nicht wie Richard Grasser in solch trostlosen Gemäuern großgeworden war.
Am Ende des Flurs führte eine der Türen in den Garten, wo die alte Oberin mit dem Schneiden einer Rosenhecke beschäftigt war. »Mutter, die Dame hier möchte etwas über einen Richard Grasser erfahren«, sagte die junge Nonne. »Er soll hier aufgewachsen sein.«
Langsam drehte sich die Oberin um. Ihr Antlitz war von tausend winzigen Fältchen durchzogen, und ein kleines Lächeln wärmte ihr Gesicht.
»Wissen Sie, daß Sie der erste Mensch sind, der sich je nach Richard Grasser erkundigt hat?« sagte sie, und ihr Blick wurde wehmütig. »Er kam als Neugeborenes zu uns. Warten Sie …« Sie überlegte einen Augenblick. »Es muß gegen Kriegsende gewesen sein. Ich erinnere mich so gut an ihn, weil er mein Sorgenkind war. Na ja«, meinte sie und lachte ein wenig, »außer mir gab es auch niemanden, der sich um ihn gesorgt hätte.«
Nachdem man ihn in das Waisenhaus gebracht habe, erzählte die Oberin, habe Richard Grasser sich zu einem pummeligen, verschlossenen Jungen entwickelt. Er war nicht wie die anderen Kinder, schien kein Bedürfnis nach Nähe zu haben. Wollte man ihn in den Arm nehmen, verzog er das
Weitere Kostenlose Bücher