Dornroeschenmord
Gesicht und wehrte sich heftig. Die meiste Zeit verbrachte er allein, las unzählige Bücher und bastelte immer an seinem alten Fahrrad herum. Wenn ihn jemand darauf ansprach, antwortete er abweisend und mürrisch.
Seine Einsamkeit und das unverhohlene Mißtrauen gegen seine Umwelt waren für jedermann offensichtlich. Ebenso wie der Grund seines unzugänglichen Verhaltens: Trotz aller Fürsorge und Einfühlsamkeit hatten die Nonnen es nicht verhindern können, daß er wegen seiner Statur und seiner Herkunft ständigen Grausamkeiten ausgesetzt war. Von seinen Kameraden wurde er »Ritschi-Dick« gerufen, und sein Klassenlehrer, ein ehemaliger Nazi, mißbrauchte seine Macht dem Jungen gegenüber auf sadistische Weise. Regelmäßig prügelte er ihn mit einem flachen Holzlineal, vorzugsweise auf das entblößte Gesäß, und ließ ihn dann mit heruntergelassenen Hosen in der Ecke stehen.
Schweigend und mit zusammengebissenen Zähnen durchstand Richard die Martyrien. Der Ehrgeiz in ihm, sich über alle andern zu erheben, um die Fesseln seines Ursprungs für immer zu durchbrechen, wuchs und gab ihm die Kraft, die er brauchte, um seinem Ziel näherzukommen. Auf seine verstockte Art sprach er immer wieder davon, einmal berühmt zu werden. Er wollte der Welt zeigen, wer er eigentlich war. Träume brauchen Wirklichkeit … Mandy erinnerte sich an den Spruch auf Grassers Set-Card.
»Wann haben Sie denn zum letzten Mal von ihm gehört?« unterbrach Mandy die Nonne.
»Er verließ uns mit achtzehn Jahren und ging wohl erst zur Bundeswehr. Ab und zu besuchte er uns noch. Aber als er dann entlassen war, kam er nur noch ein einziges Mal und dann nie wieder. Ich glaube, er wollte Medizin studieren. Wir erfuhren nie, was dann wirklich aus ihm geworden ist.«
»Er lebt jetzt in München, und es geht ihm gut«, beruhigte Mandy die alte Frau.
»Können Sie ihm nicht Grüße von mir überbringen?«
Mandy versteckte sich hinter einer barmherzigen Lüge: »Natürlich, er wird sich sicher freuen.«
Die Nonne nickte mit dem Kopf. »Ich hoffe es. Er hatte wahrlich kein leichtes Leben hier. Selig sind die, die vergessen.«
Auf der Rückfahrt nach München mußte Mandy immer wieder an Grasser denken. Für sie klaffte zwischen dem jovialen, gemütlichen Mann, den sie in seinem Schwabinger Haus kennengelernt, und der Geschichte, die sie über ihn in den letzten Tagen erfahren hatte, ein tiefer Widerspruch.
Doch hatte die Erfahrung sie nicht gelehrt, daß gerade Menschen, die ihrer Umwelt stets ein fröhliches Gesicht entgegenhalten, dahinter oft tiefsitzende Ängste und selbstzerstörerische Depressionen verbergen? Eines war klar: Grasser war durch seine Geschichte prädestiniert für eine solche Verhaltensweise. Von Anfang an war er ein Ausgestoßener gewesen. Das Kind, mit dem die andern nicht spielen wollten.
Je länger Mandy darüber nachdachte, desto logischer erschien es ihr, daß Grasser seine Vergangenheit förmlich aus dem Gedächtnis radiert haben mußte. Sogar die heimische Mundart hatte er abgelegt. Jede Erinnerung an früher mußte lebensbedrohlich auf ihn wirken. Doch die Vergangenheit ließ sich nicht tilgen, auf Umwegen kehrte sie in die Windungen seines Gehirns zurück, und der Kampf begann von neuem.
Träume brauchen Wirklichkeit. Der Mann gab vor, ein anderer zu sein, als er tatsächlich war. Grassers Leitsatz bekam für Mandy plötzlich eine tiefere Bedeutung. Wahrscheinlich war diese selbsterrichtete Scheinwelt für ihn die einzige Möglichkeit, fortbestehen zu können. Gleichzeitig mußte ein unbändiger Haß in ihm lodern. Er hatte Menschen von ihrer grausamsten Seite kennengelernt und sann vielleicht auf Rache.
Mandy hatte das Gefühl, als sei sie in einen Strudel geraten, der sie in tiefe Abgründe hinabzog.
12
Alles, selbst die Lüge, dient der Wahrheit;
Schatten löschen die Sonne nicht aus.
FRANZ KAFKA
Edward saß in einem der roten Clubsessel an einem Zweiertisch, ganz allein in einer Ecke. Trotzdem entdeckte Mandy ihn sofort und ging auf ihn zu. Um seinen Mund lag ein resignierter Zug, und seine Wangen wirkten eingefallen.
Müde ließ sie sich in den Sessel ihm gegenüber fallen, dann streifte sie hastig den hellen Trenchcoat ab und warf ihn achtlos über die Lehne hinter sich. Bei einem der vorübereilenden Kellner bestellte sie ein Glas Prosecco. Dann erst blickte sie Edward an.
»So, hier bin ich. Du wolltest mich sprechen?«
Für einen Moment schien es, als wollte er ihre Hand
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