Dornroeschenmord
als Indiz in Betracht gezogen, weil die Buchstaben darauf auch das Namenskürzel der Toten bildeten.
Ruhig legte sie es auf den Tisch zurück. Ihr Verdacht war also richtig gewesen: Edward wollte sie nur benutzen. Aber wofür? Warum zog er sie mit in die Angelegenheit und ging das Risiko ein, entdeckt zu werden? Sie knipste die Taschenlampe aus und schlich zurück in den Flur. Leise rief sie Edwards Namen.
»Hier ist nichts, laß uns gehen, bevor uns noch jemand bemerkt«, sagte sie, als sein Schatten in der Tür erschien. Sie drückte sich an ihm vorbei und ging in die Diele zurück. »Komm jetzt.«
Aber Edward blieb stehen. »Hast du wirklich überall nachgesehen?« Er ging noch einmal in den Wohnraum und sah sich um. Dann entdeckte er das Feuerzeug auf dem Tisch, und Mandy beobachtete durch den Spiegel in der Diele, wie er es hastig in seiner Manteltasche verschwinden ließ.
Das war also die Antwort auf ihre Fragen. Er hatte sie dazu benutzt, um Hinweise zu beseitigen, nicht, um sie zu finden. Und fast hätte sie seinen Beteuerungen geglaubt! Vorsichtig öffnete sie die Wohnungstür und ging langsam die Stufen hinab. Edward folgte ihr wenig später.
Auf der Fahrt zurück zu ihrem Wagen redete Mandy wie ein Wasserfall. Er muß sich in Sicherheit wiegen, dann kann mir nichts geschehen … Edward musterte sie erstaunt, ging dann aber auf ihr munteres Geplapper ein, sichtlich erfreut, daß sie nicht mehr so feindselig reagierte. Als er schließlich neben ihrem Wagen hielt, verabschiedete Mandy sich rasch, doch er hielt sie zurück.
»Warte noch einen Moment«, sagte er und griff unwillkürlich nach ihrem Arm. Daß ihr Körper sich versteifte, schien er zu ignorieren, statt dessen zog er sie eng an sich.
Einen Augenblick lang saßen sie da und sahen sich stumm in die Augen. Mandys Nasenflügel bebten, und sie wollte sich losreißen, aber Edward zögerte nicht mehr und küßte sie sacht auf die halbgeöffneten Lippen.
Sie sind alle tot! Sie stemmte ihre Hände gegen seine Brust und schob ihn zurück. »Ich will das nicht, Edward.«
»Schon gut«, antwortete er und lächelte verständnisvoll. Für ihn war ihre Zurückhaltung nichts anderes als die Flucht vor ihren wahren Gefühlen. Aber warum zog es ihn plötzlich wieder so zu ihr hin? Er griff an ihr vorbei und öffnete die Wagentür.
»Gute Nacht«, sagte er, »ich schicke dir morgen einen Scheck über das vereinbarte Honorar. Schlaf jetzt gut.«
Genau wie bei ihrem ersten Besuch roch es auch diesmal intensiv nach Kaffee. Mandy, die noch nicht gefrühstückt hatte, sog den aromatischen Duft gierig ein. Sie stand schon fast vor Cordula Schillers Büro, als sich eine Hand schwer auf ihre Schulter legte.
»Mit deinen Augen seh’ ich süßes Licht, das ich mit meinen blinden nicht mehr schaue …« Die Stimme klang hohl und näselnd.
»Guten Tag, Herr Ruttlich.« Mandy drehte sich abrupt um und blickte in die wäßrig-blauen Augen des Redaktionsleiters.
»Wie ich sehe, haben Sie Ihren Rilke wirklich gründlich studiert.«
»Sie offensichtlich auch.« Wieder sah er sie so merkwürdig lauernd an. Nur wirkte er diesmal noch eingefallener, und in seinen Augen lag ein unstetes Flackern. Mit einer übertriebenen Bewegung aus dem Kreuz heraus verneigte er sich plötzlich vor ihr, grapschte nach ihrer Hand und drückte einen feuchten Kuß darauf. Widerliche Kröte.
»Wie immer freue ich mich sehr, sie zu sehen, Herr Ruttlich.« Schleimspuren an den Händen. »Aber leider bin ich jetzt mit Frau Schiller verabredet.« Sie wischte heimlich ihre Hand am Mantel ab und ging weiter.
Während Mandy von ihren Ermittlungen berichtete, rannte die Regisseurin wie ein verschrecktes Wiesel im Zimmer umher. Dann rang sie fassungslos die Hände.
»Ich hatte also recht mit meiner Vermutung. Der Mann ist ein Schwindler! Wissen Sie eigentlich, was er uns über seine Eltern erzählt hat?«
Mandy schüttelte stumm den Kopf.
»Sein Vater sei der Sohn eines Gutsbesitzers gewesen, Flieger im Zweiten Weltkrieg, ausgezeichnet mit den Orden sämtlicher Klassen. Hier«, sie kramte hektisch auf ihrem Schreibtisch und zog eine verknitterte grüne Mappe hervor, »die wollte ich Ihnen sowieso noch schicken.« Sie griff hinein und zog ein vergilbtes Schwarzweißfoto hervor, das einen schmalgesichtigen Mann in Uniform zeigt. »Das ist angeblich sein Vater.« Ihre Stimme wurde hart, Mitleid mit Grasser hatte sie offenbar nicht.
»Daß seine Kindheitsgeschichte nicht stimmt, heißt ja
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