Dornroeschenmord
schon immer irritiert: So unfreundlich, wie sie zu Beginn dieses Abends gewesen war, so verständnisvoll und entgegenkommend war sie jetzt.
Verstohlen blickte er zu dem Bücherregal, unter dem sie die Papiere vor ihm verborgen hatte. Für einen Moment lauschte er zur Küche hin – die Kühlschranktür schlug gerade zu. Schnell bückte er sich und zog die Papiere hervor.
Er blickte auf ein großes Stück schwarzer Pappe, auf dem unzählige Fotos ausgebreitet lagen. Alle zeigten Dorothee und Mandy. Mysteriös daran war, daß Dorothee ihre Freundin aus sämtlichen Bildern herausgeschnitten hatte. Auf den noch unversehrten hatte sie Mandys Konturen mit einem Rotstift umrahmt. Der Anblick der abgeschnittenen, auf dem Karton verstreuten Köpfe hatte für Christoph fast schon etwas Rituelles. War denn alle Welt verrückt geworden?
Er schob Dorothees Machwerk mit dem Fuß unters Regal und kippte den Cognac, den sie ihm wenig später servierte, in einem Zug hinunter.
17
Sie haben Augen und sehen nicht,
sie haben Ohren und hören nicht.
PSALM 115,5-6
Mandy, die es immer überraschte, wenn jemand sich um sie sorgte, wäre zutiefst gerührt gewesen, hätte sie gewußt, wie Christoph und Dorothee um ihr Wohlergehen bangten. Doch obwohl sie sonst täglich mit ihrer besten Freundin telefonierte, manchmal sogar mehrmals, hatte sie Dorothee seit ihrem letzten Besuch am Mittwoch nicht mehr gesprochen.
Inzwischen waren ein paar Tage vergangen, die sie ausschließlich den letzten Recherchen und dem Abschlußbericht für Cordula Schiller gewidmet hatte. Sie bedauerte aufrichtig, daß sie Grassers Geheimnis nicht bis ins letzte würde entschlüsseln können. Ihre Ermittlungen hatten zwar bestätigt, daß die Lebensgeschichte des Mannes auf nichts als Lügen beruhte, aber viel ausschlaggebender fand Mandy das Warum. Es lag ihr nicht, nach der Oberfläche zu urteilen, und einen wirklichen Beweis, daß er der Dornröschenmörder war, hatte sie nicht gefunden.
Während Mandy im siebten Stock über ihrem Fall brütete, drückte Gwendolyn von Habeisberg im Erdgeschoß auf den Aufzugknopf. Sie stieg ein und betrachtete sich in der Spiegelfront der Kabine. Das beigefarbene Leinenkostüm harmonierte perfekt mit ihrem blaßblonden Haar, das sie zu einem Chignon-Knoten aufgesteckt trug. Mit ihren behandschuhten Fingern strich sie sich vorsichtig eine Strähne aus der Stirn. Sie wirkte äußerst elegant und distinguiert – ihre Erscheinung war so vollendet, daß jeder klischeebewußte Drehbuchautor sie als Vorlage für die obligatorische Gräfin einer Vorabendserie hätte nehmen können.
Aufrecht und mit festen Schritten ging sie über die Marmorfliesen, die Absätze ihrer maßgefertigten Schuhe hallten durch den Flur. Vor Mandys Bürotür studierte sie interessiert das Firmenschild aus Messing. Erst dann drückte sie auf die Klingel.
Es dauerte eine Weile, ehe Mandy öffnete. Als sie ihre Besucherin erkannte, entgleisten ihr für einen Moment die Gesichtszüge, doch sie hatte sich rasch wieder in Griff. »Du?« sagte sie, und es klang so entgeistert, daß Gwendolyn sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen konnte.
»Ja, ich«, antwortete sie und ging wie selbstverständlich an Mandy vorbei ins Büro. Mit einem wohlgefälligen Blick sah sie sich um. »Schön hast du es hier. Du hast wirklich Geschmack.« Ihr Auftritt ähnelte dem einer Souveränin, die sich dazu herabgelassen hatte, die Ärmsten ihres Volkes zu besuchen.
Mandy bemühte sich um Gelassenheit. »Bitte, nimm doch Platz«, sagte sie, während sie sich in ihren Ledersessel setzte und die Beine übereinanderschlug. »Du bist doch sicher nicht gekommen, um meine Büromöbel zu begutachten. Brauchst du meine Hilfe? Ist jemand verschwunden? Hat Edward womöglich ohne deine Erlaubnis die Burg verlassen?«
Gwendolyn lächelte sanft: »Warum denn so feindselig, meine Liebe? Ich bin mit den besten Absichten hier. Nein, Edward hat die Burg, wie du es auszudrücken beliebst, nicht verlassen. Im Gegenteil, er sitzt Abend für Abend in seinem Zimmer und trauert. Um dich.«
Um keinen Preis der Welt hätte Mandy es zugegeben, aber ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer vor Triumph. »Ach wirklich? Und warum erzählst ausgerechnet du mir das?«
»Ich weiß, daß dir das seltsam vorkommen muß. Es fällt mir auch nicht leicht, aber ich habe eingesehen, daß ich, was Edward angeht, zu besitzergreifend war. Vielleicht kannst du es ein wenig nachvollziehen, er ist mein einziges Kind
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