Dornroeschenmord
Tag nur ein Ort zum Spazierengehen in Frage.
Genau wie Edward es vermutet hatte, saß seine Mutter vor einem Grab auf einer Parkbank. Gwendolyn fühlte sich von jeher von der morbiden Romantik, die sich besonders im Herbst über den Waldfriedhof senkte, rätselhaft angezogen. Niemand sonst saß auf den Bänken, die die Friedhofsverwaltung aufgestellt hatte, nur ein paar ältere Leute spazierten auf den Wegen auf und ab.
Die verwitterten Grabsteine glichen armseligen alten Jungfern, die auf ihre nie wiederkehrenden Liebhaber warteten – und Edward wurde klar, daß dies das Bild war, das er zeitlebens von seiner Mutter gehabt hatte.
Trotz all der Verschlossenheit und der Lügen, mit denen sie ihn über Jahre konfrontiert hatte, regte sich in ihm so etwas wie Mitleid, und er legte ihr sacht die Hand auf die Schulter. Erschrocken drehte Gwendolyn sich nach ihm um.
»Edward, du? Was machst du denn hier?«
»Ich habe dich gesucht.« Er sah sie zögernd an und spürte, wie sein Herz nervös zu schlagen begann. Doch dann straffte er die Schultern und verfiel unbewußt in die Haltung des Anwalts. Ohne ein weiteres Wort zog er aus der Innentasche seines Mantels die vergilbte Fotografie Frank von Arnsteins.
»Kannst du mir sagen, wer dieser Mann auf dem Foto ist?« Er merkte selbst, wie hart seine Stimme klang.
»Sein Name ist Frank von Arnstein.«
»Und?« Edward war unerbittlich.
»Ist das ein Verhör?« Gwendolyns Stimme klang fest, aber sie schaffte es nicht, ihrem Sohn ins Gesicht zu sehen. »Du weißt doch längst, wer der Mann auf diesem Bild ist. Wüßtest du es nicht, dann wärst du jetzt nicht hier. Es war ein Fehler von mir, es all die Jahre zu verschweigen: Frank von Arnstein ist dein leiblicher Vater.« Nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, sank Gwendolyn wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte, in sich zusammen.
Nun, nachdem Edward ihr die Wahrheit abgerungen hatte, wurde ihm bewußt, daß er nie darüber nachgedacht hatte, welche Konsequenzen es haben würde. Die Rolle des Anwalts, die er kurz zuvor noch so perfekt beherrscht hatte, war von ihm abgefallen, und er fühlte sich wie ein kleiner, hilfloser Junge, der trotzig auf seinem Recht beharrt.
Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben und den Blick noch immer unbeteiligt auf das Grab gerichtet, begann Gwendolyn plötzlich zu sprechen.
»Ich war sechsundzwanzig, als ich Frank von Arnstein kennenlernte. Ich traf ihn auf einem Ball, als ich Freunde in New York besuchte. Er war all das, was ich mir immer gewünscht hatte, und ich verliebte mich sofort in ihn. Bis heute glaube ich, daß es ihm nicht anders erging, aber noch wichtiger als ich waren ihm Reichtum und Macht. Und genau das konnte ich ihm nicht geben. Aus diesem Grund entschied er sich für die Ehe mit einer gewissen Isabelle Davenport. Sie gehörte zu den reichsten Familien New Yorks und konnte ihm das Leben bieten, das er sich erträumte. Daß ich ein Kind von ihm erwartete, als er sie heiratete, habe ich ihm niemals gesagt.«
»Warum nicht?« Edward fand die Frage ganz natürlich, aber Gwendolyn reagierte nicht darauf, und ihr Gesicht blieb so ausdruckslos wie zuvor.
Edward fielen die Worte ein, die sie an jenem Abend gesagt hatte, bevor er das Foto entdeckte. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt und glaubte, meine Herkunft und meine Schönheit seien die Eintrittskarte zum vollkommenen Glück. Ich fühlte jene arrogante Sicherheit, die man nur so lange besitzt, bis die erste Enttäuschung die eigenen Mängel sichtbar macht. Plötzlich merkt man, daß man gar nicht so unverwundbar ist, wie man geglaubt hat. Es ist der Moment, in dem sich die Angst ins Leben schleicht und die sorgsam gehüteten Ideale der Ernüchterung weichen. Mit einem Mal verstand er, was sie ihm damals hatte mitteilen wollen, und jetzt wurde ihm auch der Schmerz bewußt, der unter diesen Worten begraben lag. Obwohl er wußte, daß es sie quälen würde – eine Frage mußte er ihr noch stellen.
»Hat Papa es gewußt?« Ein bitterer Schmerz brannte in seiner Kehle, als er an den hochgewachsenen, hageren Mann dachte, den er jahrelang für seinen Vater gehalten hatte. Und in diesem Augenblick begriff er auch die Traurigkeit, die er als kleiner Junge intuitiv an ihm wahrgenommen hatte.
Wieviel Anstrengung mußte es ihn gekostet haben, eine Frau zu lieben, von der er wußte, daß ihr Gefühl seinem niemals entsprechen würde. Und daß Gregor von Habeisberg seine Mutter geliebt haben mußte,
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