Dornröschenschlaf
Papier.
Brenna überflog den kurzen Text und rang erstickt nach Luft.
»Nein«, entfuhr es ihr.
Dann bemerkte sie auch den Geruch, der in dem Dampf enthalten war. Einen süÃen, fauligen Geruch. Weshalb hatte sie diesen Geruch nicht gleich bemerkt?
Brenna wollte sich nicht umdrehen, hatte aber keine andere Wahl. Vorsichtig machte sie kehrt und sah den armen Mann, den armen, unglücklichen Nelson Wentz, der, seinen eigenen Gürtel um den Hals, an einem Handtuchhaken rechts neben der Dusche hing.
Während sie noch immer nur das Wasser rauschen hörte, spürte Brenna, wie ein stummer Schrei ihr Innerstes zerriss.
26
Es war das Gesicht, das sie niemals vergessen würde â die bleiche Haut, die beiden verquollenen, bläulich verfärbten Augen, den zu einer kranken Parodie von einem Lächeln aufgerissenen Mund.
Halloween-Make-up. Dieser vollkommen idiotische Gedanke ging Brenna als Erstes durch den Kopf, während ihr Gehirn versuchte, eine harmlose Erklärung für das grauenhafte Bild zu finden, das sie vor sich sah â den leblosen Körper, der an einem dicken Haken hing, während er mit einem Fuà gegen den Rand des Wasserhahnes stieÃ, weshalb das Wasser â anfangs heiÃ, aber inzwischen kalt â schon seit mindestens zwölf Stunden lief.
Nicht weniger idiotisch dachte sie: die Wasserrechnung , doch bereits im selben Moment fing sie an zu schreien.
Nelson Wentz war tot. Es sah aus, als hätte sich der Mann erhängt, und obwohl es Brenna einfach nicht begriff â weil so vieles einfach keinen Sinn ergab â, war die Polizei schon kurz nach ihrem Eintreffen bereit, den Fall als Selbstmord abzutun. Weil es keine Spuren eines Kampfes oder eines Einbruchs gab. Weil, abgesehen von den leicht verrückten Möbeln, deren Erwähnung ihr verständnislose Blicke eingetragen hatte, nicht das mindeste in Nelsons Haus verändert war.
Und dann war da natürlich noch der Abschiedsbrief.
Ich kann mit dieser Schuld nicht länger leben. Ich habe meine Frau Carol umgebracht. Ich dachte, dass sie ein Verhältniss hat und wusste nicht mehr, was ich tat. Es tut mir wirklich leid. Gott sei meiner Seele gnädig. Nelson Wentz
Wie nicht anders zu erwarten, hatte Nelson eine tadellose Schrift gehabt. Die Buchstaben waren perfekt geformt und wiesen einen gleichmäÃigen Abstand zueinander auf.
Inzwischen lag der Brief in einer durchsichtigen Plastiktüte auf dem Tisch im Wohnzimmer, um den auÃer Morasco und seinem Kollegen Pomroy noch eine kräftige rothaarige Kollegin in einem einfachen marineblauen Wickelkleid sowie ein älterer Detective mit einem mit Ankern bedruckten Schlips, die sich beide nicht vorgestellt hatten, versammelt waren. Brenna, die von dieser Gruppe kurz vernommen worden war, lehnte an der Tür des Raums mit Carols Nähsachen und sah die vier Beamten, die noch auf den Polizeichef warteten, nacheinander an.
Die Detectives sprachen nur sehr wenig. Wickelkleid und Ankerschlips saÃen nebeneinander auf der Couch und hatten ordentlich die Hände in den Schoà gelegt. Sie wirkten wie ein Ehepaar, das man für einen todlangweiligen Dokumentarfilm interviewte, wobei Pomroy, der im Hintergrund am Fensterrahmen lehnte, den fleischigen Moderator gab. Morasco, der ganz vorn auf dem Rand von Nelsons Fernsehsessel saÃ, sah Brenna immer wieder an, was sie gleichzeitig als Trost und als Ablenkung empfand.
»⦠kommt sicher jeden Augenblick«, sagte Pomroy, ehe Hutchins wie aufs Stichwort durch die Tür geschlendert kam. Brenna hätte es nicht überrascht, wäre in dem Moment von irgendeinem Band brüllendes Gelächter oder tosender Applaus ertönt. Hutchins hatte seine Golfkluft gegen einen Nadelstreifenanzug eingetauscht, der offenbar während einer Diät für ihn geschneidert worden war, da das Jackett so straff gespannt wie eine Wurstpelle um seine breiten Schultern lag.
»Na, wie stehen die Aktien, Leute?«, fragte er. »Wie ich höre, haben wir einen Abschiedsbrief, Zeichen eines Einbruchs gibt es nicht, und die Leiche wurde heute Vormittag entdeckt.«
Pomroy schlurfte auf ihn zu, leierte ein paar Details herunter, und die Detektivin sah die beiden vierschrötigen Männer mit den kalten, ausdruckslosen Augen nacheinander an.
Seltsam, wie der eigene Körper damit umging, wenn man einen Toten fand. Nach anfänglicher Panik fühlte man sich selbst ein bisschen
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