Dornröschenschlaf
Ausflüchte und Notlügen und dieses ganze Wenn-man-nichts-Gutes-sagen-kann-hält-man-besser-den-Mund einfach nicht brauchen. Weil es einfach der totale Schwachsinn ist. Ich brauche Fakten. Und zwar alle Fakten. Und wenn Sie damit nicht klarkommen, schlage ich Ihnen vor â«
»Ich war in Lydia Neff verliebt.«
Brenna hob die Brauen. Unsicher, wie sie darauf reagieren sollte, starrte sie ihren Mandanten eine geschlagene Minute schweigend an. »Dann hatten Sie also doch eine Affäre«, stellte sie schlieÃlich tonlos fest.
»Nein.« Sein Blick wurde verhangen.
»Aber Sie hatten Gefühle füreinander?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe nicht.«
»Lydia hatte ihre eigene PR -Firma«, erklärte Nelson ihr. »Sie hat von zu Hause aus gearbeitet, musste aber auch oft in die Stadt. Vor zwölf Jahren hatte sie ein gröÃeres Projekt â die Eröffnung des Rose Buildings in der 57. Damals fuhr sie mehrere Monate lang fast täglich mit dem Zug in die Innenstadt.« Er nahm den letzten groÃen Schluck aus seinem Glas, und Brenna war froh, dass kaum Scotch darin gewesen war.
»Und â¦Â«
»Und wie Sie wissen, fahre auch ich selber täglich mit dem Zug in meine Redaktion. Wir fuhren immer um dieselbe Zeit. Anfangs haben wir uns nur gegrüÃt, aber irgendwann fingen wir an, uns zu unterhalten.«
»Und worüber haben Sie sich unterhalten?«
»Politik, Religion, wissenschaftliche Entdeckungen ⦠alles Mögliche. Lydia hat mich immer nach den Artikeln gefragt, die ich gerade redigierte, und von da aus haben sich unsere Gespräche dann ⦠weiterentwickelt.« Auch er stellte sein Glas auf einem Untersetzer ab, fuhr sich mit einer Hand durch das schüttere Haar und starrte die Zimmerdecke an. »Sie war unglaublich ⦠interessiert.«
»Anders als Carol.«
»Ja. Anders als Carol.«
»Und während dieser Zugfahrten haben Sie sich in Lydia verliebt?«
Er nickte stumm.
»Sie konnten es also morgens kaum erwarten, bis Sie endlich am Bahnhof waren.«
»Ja.«
»Glauben Sie, dass es Lydia genauso ging?«
Nelson schüttelte den Kopf. »Ich war für sie einfach jemand, mit dem sie sich die Zeit vertrieben hat«, gab er unumwunden zu. »Ich glaube, einem Teil von mir war das damals schon bewusst â aber das war mir egal. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn eine Frau â und dann noch eine Frau wie Lydia Neff â einem praktisch an den Lippen hängt? Wenn sie einem in die Augen sieht, als wäre man der einzige Mann auf Erden?« Wieder fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar. »Irgendwann ging sie sogar so weit, mir Dinge anzuvertrauen.«
»Und was hat sie Ihnen anvertraut?«
»Sie hat mir von ihrer Vergangenheit erzählt. Von ihren wilden Collegejahren. Ihrem Exmann, Irisâ Vater. Einem Genie, das sich aber das Hirn mit Drogen zerstört hat â mit Methamphetaminen, glaube ich ⦠Damals war er in einer Anstalt. Ich glaube, auÃer mir hat sie niemandem von ihm erzählt.«
Brenna blickte Nelson an. »Sie hat Ihnen vertraut.«
»Wir hatten niemals ein Verhältnis. Wir haben niemals irgendwas Verbotenes getan â nur miteinander geredet, weiter nichts.«
»Wobei Reden manchmal noch intimer ist.«
Nelson starrte seine Hände an.
»Vor allem, wenn sonst niemand mit einem spricht.«
Während er an seinem Daumennagel kratzte, hob er kurz den Kopf und sah Brenna aus so leuchtenden Augen an, als hätte jemand einen Schalter dahinter umgelegt. »Timothy OâMalley.«
»Hä?«
»Timothy OâMalley. Lydias Exmann â so hat er geheiÃen.« Abermals blickte er Brenna aus leuchtenden Augen an. »Sie hat Kunstgeschichte in Syracuse studiert. Ihre Mitbewohnerin im ersten Jahr war ein prüdes Mädchen aus Harrisburg in Pennsylvania, das Marianne Stanhope hieÃ. Ich kann mich an alles erinnern, was sie mir jemals erzählt hat, Miss Spector. Ich habe sämtliche Details aus ihrem Leben in meinem Kopf gespeichert wie â¦Â«
»Souvenirs.«
»Ja.« Er atmete tief ein und wieder aus. »Wie Souvenirs.«
»Verstehe«, antwortete Brenna, denn auch wenn ihr Hirn seine Erinnerungen nicht so auswählte, wie es das Hirn von Nelson offenkundig tat, konnte sie ihn wirklich gut verstehen. Sie wusste, was es hieÃ, eine menschliche
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