Dornroeschenschlaf
zurückkehren zu müssen, ist schon fast Betrug, eine Unverschämtheit!«
»Sie ist wohl noch nicht richtig wach«, murmelt er wie zu sich selbst und nimmt meine Hand. Im selben Moment merke ich, wie mir heiße Tränen die Wangen hinunterlaufen. Als sie auf das Laken tropfen, erschrickt er, zieht mich entschlossen unter die Decke zurück und beginnt – obwohl er doch jetzt gar nichts dafür kann – verzweifelt auf mich einzureden:
»Ich weiß, ich weiß, du kannst nicht mehr. Weißt du was? Diese Woche können wir uns zwar nicht mehr sehen, aber was hältst du davon, wenn wir nächste Woche mal so richtig schön essen gehen? Oder – das große Feuerwerk am Fluß, ist das nicht auch nächste Woche? Laß uns da hingehen, ja?« Seine Brust fühlt sich heiß an an meinem Ohr, und ich kann sein Herz schlagen hören.
»Da ist es ja wohl immer voll …«, sage ich und muß lachen. Trotz der Tränen, die mir nach wie vor über die Wangen kullern, geht es mir schon wieder besser.
»Ganz hinunter bis ans Ufer werden wir wohl nicht kommen, aber auch von weiter weg sieht man noch relativ viel. – Genau: Wir gehen gegrillten Aal essen!«
»Au ja, das machen wir!«
»Weißt du einen guten Laden?«
»Hmm … Wie wär’s mit dem größeren Restaurant da direkt an der Hauptstraße?«
»Ach nein, die bieten außer Aal noch alles mögliche an, Tempura und so, das kann nicht gut sein. War da in der Gegend nicht noch ein Laden, in einem der Nebengäßchen?«
»Ach ja, ich glaub, ich weiß, wo du meinst: so ein kleines Restaurant irgendwo hinter dem Tempel. Laß uns einfach hingehen, wir werden’s schon finden.«
»Ein Aal muß frisch sein, das ist das A und O, am besten direkt aus dem Wasser auf den Grill und sofort auf den Tisch.«
»Der Reis muß unbedingt bißfest sein dazu – ja, und natürlich die Soße, damit steht und fällt alles, das heißt, wenn man den gegrillten Aal auf Reis bestellt.«
»Ja, genau. Bah, zum Kotzen, wenn der Reis so matschig wird! – Als Kind, da war Aal das absolute Festessen für mich.«
Und so reden wir noch endlos über Aal, bis die Pausen zwischen den Wörtern größer werden und uns schließlich fast gleichzeitig die Augen zufallen. Ich sinke in einen friedlichen Schlaf, tief und fest und wohlig warm, aus dem mich kein Traum mehr reißen kann.
Der Ort, an dem seine Frau ist – wie tief auf dem Grunde der Nacht mag das wohl sein?
Und wie weit mag es von dort aus noch bis zu dem Ort sein, wo Shiori sich jetzt befindet? Ob auch meine Seele manchmal im Schlaf dort umherwandelt, in dieser Nachtessenz aus hochprozentiger Finsternis?
Das sind meine Gedanken, kurz bevor ich wach werde. Als nächstes fällt mir das Fenster mit einem Himmel voll düsterer Wolken ins Auge, dann drehe ich den Kopf zur Seite und sehe, daß er schon weg ist. Ein Blick auf die Uhr versetzt mir einen Schock: Es ist bereits ein Uhr nachmittags. Oweiowei! Ich bin so erschrocken, daß ich sofort aufspringe. Auf dem Nachttischchen liegt ein Brief.
Du bist mir eine! Keine Arbeit, aber gut schlafen, das kannst Du, und wie!
Schlafende Frauen scheinen mein Schicksal zu sein.
Du schläfst so tief und fest, daß ich Dich einfach nicht wachbekomme. Laß es nur gemütlich angehen, das Zimmer hab ich bis zwei Uhr nachbezahlt.
Ich muß gehen, die Arbeit ruft. Ich melde mich.
Ein schöner Brief, jedes einzelne Zeichen ist gestochen scharf geschrieben, wie von einem Kalligraphen. Daß er so schreiben kann – ich starre noch lange auf den Brief, wie auf eine Fata Morgana, die seine Konturen deutlicher zu erkennen gibt, als der Mann selbst, mit dem ich letzte Nacht noch geschlafen habe.
Ich habe nur ein T-Shirt an und friere am ganzen Leib, obwohl es Sommer ist. Silbern glänzende Wolken liegen über der Stadt, die sich weit vor mir erstreckt. Ich blicke auf die Autoschlangen hinunter und ziehe mich an, ohne daß die Benommenheit nur einen Deut aus meinem Kopf weichen will. Ich wasche mir das Gesicht, putze mir die Zähne, werde aber auch davon kein bißchen wacher, sondern fühle nur, wie meine Seele langsam volläuft mit aufsteigender Müdigkeit.
Ich gehe in den Teeraum und versuche, zu Mittag zu essen, aber meine armen Glieder scheinen schwerelos in der Luft zu schweben, mein Mund, mein Magen und meine Seele sind in alle Himmelsrichtungen verstreut. In der trüben Sonne, die ihre dünnen Strahlen durchs Fenster hereinfallen läßt, versuche ich nachzurechnen, wie lange ich geschlafen habe, wobei mir
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