Dornroeschenschlaf
wirre Gedanken.
Angenommen, Sarah wäre gerade in Japan, könnte aus irgendeinem Grund nicht frei reden und hätte jetzt den Mut verloren, sich mit Namen zu melden. Angenommen, sie wollte nur hören, ob wir, ihre Freunde von damals, noch da sind.
Das waren allerdings pure Vermutungen. Schweigen verrät einem nichts.
»Sarah, leg nicht auf!« Die englischen Brocken zusammenkratzend, sprach ich aus einem Meer von Schläfrigkeit. Das Telefonat wurde nicht unterbrochen. Ich versuchte es weiter:
»Hier ist Shibami, Yoshihiros Schwester! – Wir haben uns doch ein paarmal getroffen und uns Briefe geschrieben, weißt du noch? – Ich bin jetzt fast zweiundzwanzig! – Du hast dich doch bestimmt auch ganz verändert! – Auch wenn der Kontakt zwischen uns beiden vielleicht völlig abgebrochen ist, denke ich doch irgendwo tief in meinem Herzen immer an dich. – Gerade dieser Tage hab ich den Entwurf eines Briefes an dich wiedergefunden und mußte an dich denken. Mir fiel wieder ein, wie du mir damals die Hausaufgaben gemacht hast und so.«
Als ich schwieg, war vom anderen Ende ein fernes Rauschen zu hören. Eine Geräuschkulisse aus Stimmen und Schritten vorbeigehender Leute. Danach wurde es wieder völlig still. Und dann drang ein tränenreiches Schluchzen an mein Ohr, das immer lauter wurde. Sarah weinte. »Sarah?« fragte ich erschrocken.
»Sorry …« Kaum vernehmbar, aber unverkennbar Sarahs Stimme.
Volltreffer, sie redet mit mir, dachte ich und fragte: »Sarah, bist du in Japan?«
»Ja. Aber ich kann dich nicht treffen«, antwortete sie.
»Bist du mit irgendeinem Mann hier? Kannst du von deinem Zimmer aus nicht reden? Das da ist doch ein Hotel, oder?«
Sarah antwortete nicht. Sie weinte bloß. Dann sagte sie: »Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht. Als ich deine Stimme hörte, erinnerte ich mich an alles bei euch zu Hause … an die schöne Zeit in Japan … und mir wurde ganz schwer ums Herz.«
»Sarah, bist du glücklich?« fragte ich.
Zum ersten Mal sagte sie mit einem kleinen Lachen vom anderen Ende: »Ja, ich habe geheiratet. Es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen, ich bin nicht unglücklich.«
»Wie schön!«
»Sag mal, Shib a mi. Als Yoshihiro starb, war er da allein …? Ich meine, ich wollte nur wissen, ob er eine große Liebe hatte«, fragte Sarah ganz unvermittelt.
Ich wußte genau, daß Sarah etwas ahnte. Wegen dem Glanz in Mariës Augen, schon als sie in Boston war, und wegen Yoshihiros Blicken. Denn Yoshihiro hatte Marië immer mit einem eigentümlichen Ausdruck angeschaut, ganz klar und still. Als wollte er sich vergewissern, daß sie lebendig ist, sich bewegt und vor seinen Augen lacht.
Diese Blicke hatte Sarah mit Sicherheit bemerkt.
»Er war allein.« All meine Kunstfertigkeit im Lügen legte ich in diese Worte. »Freundinnen hatte er ja viele, aber die wahre Liebe war nicht dabei.«
»Aha … Entschuldige, daß ich dir so alberne Fragen stelle … Aber ich fühle mich so vertraut mit dir wie früher, seit ich hier in Japan bin. Ich bin wirklich froh, daß ich mit dir sprechen konnte. Das hab ich nur dir zu verdanken!« sagte Sarah. Das war jetzt nicht mehr die Frau, die einfach nicht umhin konnte anzurufen, ohne sich zu melden, oder die von innerer Zerrissenheit gequält in Tränen ausbrach. Das war wieder die gelassene Sarah, die ich kannte.
»Tja dann, mach’s gut. Ich muß wieder zurück auf mein Zimmer.«
»Ja, also dann …«, sagte ich. Mittlerweile war ich hellwach. Der Himmel vor meinem Fenster hatte eine seltsame Tönung zwischen blau und grau angenommen, im ganzen Zimmer war es unwahrscheinlich grell. Komisches Wetter, dachte ich und sagte: »Ich wünsch dir Glück, Sarah, ganz ehrlich. Viel, viel Glück!«
»Danke, Shib a mi«, sagte sie und legte auf.
Ich hatte das Gefühl, etwas geschafft zu haben, aber gleichzeitig wurde mir richtig seltsam zumute, ganz furchtbar traurig. Und wieder kam mir Marië einfach unglaublich vor. Aus einem Anruf, bei dem kein einziges Wort gefallen war, hatte sie erahnt, daß Sarah in Japan war. Mit festem Blick hatte sie davon gesprochen, ohne jeden Zweifel. Sie hatte es einfach gewußt. Ja, wahrscheinlich war für Marië, die im Moment zwischen Traum und Wirklichkeit umherirrte, eine Person am anderen Ende des Telefons greifbar nah, und sie hatte Sarah augenblicklich erkannt.
»Hallo?« Da ich an diesem Tag wie versprochen das Geld zurückbekommen sollte, rief ich Ken’ichi an.
»Ach, hallo, bist du’s,
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