Dornteufel: Thriller (German Edition)
Bäumen aus, der sich leicht hin und her bewegte. Sie ging auf den Mann zu.
Aber was war los mit ihm? Und warum berührten seine Füße nicht den Boden?
Paul Renard war tot. Aufgehängt am Hals mit etwas, das wie eine Plastikwäscheleine aussah.
Julia konnte nicht einmal schreien. Sie war unfähig, sich zu bewegen, unfähig, wegzulaufen. Sie schaute in Renards entstelltes Gesicht mit den hervorquellenden Augen und der Zunge, die aus seinem offenen Mund ragte. Sein Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Er schien sie anklagend anzustarren. Mit einem Mal hatte Julia entsetzliche Angst. Lähmende, kalte Angst. Sie hatte das Gefühl unterdrückt, seit sie wieder in Hamburg war. Weggeschoben mit der Begründung, dass Indien Indien und Deutschland Deutschland war. Hier in der Heimat passierten keine Morde in ihrem Umfeld, hatte sie geglaubt. Und es passierte doch! Direkt vor ihren Augen.
Unter Aufbietung all ihrer Willenskraft ging Julia noch einen Schritt auf Renard zu und fühlte am Handgelenk nach seinem Puls. Seine Haut war kühl und feucht, aber das bedeutete nicht viel bei diesem Wetter. Sie konnte keinen Pulsschlag feststellen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er tot war. Doch sie wusste, dass noch eine winzige Chance bestehen konnte. Dass sie ihn losmachen musste. Nur womit? Seine Füße waren nur Zentimeter vom Boden entfernt. Zentimeter, die über Leben oder Tod entschieden hatten. Schließlich taumelte sie zurück und rief einen Rettungswagen und die Polizei.
Später fragte sie sich, warum sie nicht weggelaufen war. In dem Moment, als sie den Journalisten am Baum hatte hängen sehen, war für sie klar gewesen, dass jemand ihr Treffen mit Renard um jeden Preis hatte verhindern wollen. Und es bestand die Möglichkeit, dass man sie ebenfalls ermorden wollte.
Die zuständigen Polizeibeamten hielten sich bedeckt, was Spekulationen über Renards Ableben anging. Ein Selbstmord oder ein Mord? Beides sei denkbar, meinten sie. Eine leere Bierkiste, die in der Nähe der Leiche gefunden worden war und die als Tritt hätte benutzt werden können, schien die Möglichkeit eines Selbstmordes zu untermauern. Für Julia war die Suizid-Hypothese schlichtweg absurd, und sie beharrte darauf, dass umgehend das Bundeskriminalamt über den Mord informiert werden sollte. Sie war überzeugt davon, dass ein Zusammenhang zu den Vorgängen bei Serail Almond bestand.
Catherine Almond, Vorstandsvorsitzende von Serail Almond, stand am Kopfende des Besprechungstischs. »In den letzten Tagen ging es um die finanziellen Herausforderungen, vor denen der Konzern steht«, sagte sie und musterte die drei anderen Vorstandsmitglieder der Reihe nach. »Aber das ist nicht der einzige Grund, weshalb wir hier sind.«
»Wird auch langsam Zeit, dass wir zur Sache kommen!«, rief Stefan Wilson forsch.
Sie überging die Äußerung, die ein indirekter Vorwurf war, und blickte schweigend zur gegenüberliegenden Wand. Wilson brauchte hin und wieder einen Hinweis darauf, wo sein Platz am Tisch war. Er entsprach, angefangen von seinem kantigen Kopf mit dem nach hinten gegelten Haar bis hin zu den Budapester Schuhen, exakt dem Klischee eines Managers. Seine Außenwirkung war ihm zu wichtig, als dass er in jeder Situation optimal reagieren konnte. Das Problem aller Feiglinge, die einen Teil ihres Selbstbewusstseins aus der Anerkennung durch andere zogen. Außerdem wusste sie so einiges über ihn, das er ungern vor der Öffentlichkeit ausgebreitet sähe. Nein, Stefan Wilson stellte keine Gefahr für ihre Pläne dar.
Noël Almond, ihr Ehemann, saß in sich zusammengesunken auf seinem Stuhl. Er hatte sich zu viel Aftershave ins Gesicht geklatscht, sie konnte es bis zu ihrem Platz riechen. Ihr Mann durchlitt wieder eine seiner Phasen, wie Catherine es nannte. Dann kreisten seine Gedanken nur noch um die Aurelie und vielleicht noch um die Gespielin, die er beim nächsten Segeltörn mitnehmen wollte. Früher hatte er während seiner depressiven Schübe nur im Bett gelegen. Tage-, manchmal wochenlang. Da war die Aurelie eine bessere Alternative, weil ein Urlaub auf der Jacht für Außenstehende keine Fragen aufwarf. Aber gerade wenn er schlecht drauf war, neigte er zur Opposition und zu einem gewissen Scharfblick, den sie heute fürchtete.
Dann war da noch Ralph Kämper, das Vorstandsmitglied, das offiziell für die Finanzen zuständig war. Die farblosen Augen, mit denen er durch seine Goldrandbrille blickte, waren die eines Buchhalters. Catherine erwartete von ihm den
Weitere Kostenlose Bücher