Dornteufel: Thriller (German Edition)
der Geliebten … Hinter der Haltestelle Mönckebergstraße tauchte die U-Bahn aus dem Untergrund auf und fuhr auf einer über Straßenniveau gelegenen Trasse zum Hafen. Julia sah zu den beleuchteten Speichern aus rotem Backstein jenseits des Fleets hinüber. Bald tauchten linker Hand das Feuerschiff, die Rickmer Rickmers und das Museumsschiff Cap San Diego auf.
An der Haltestelle St. Pauli stieg Julia aus. Um diese Uhrzeit strömten jede Menge Vergnügungssüchtige und Nachtschwärmer durch das Viertel. Niemand interessierte sich für sie, als sie ein Stück weit die Reeperbahn hinunterging und dann in die Straße Hamburger Berg einbog, wo sich das Kaschinsky’s befand. Vielleicht hatte dieser Renard den Treffpunkt vorgeschlagen, weil Fremden als Erstes immer die Reeperbahn einfiel, wenn sie an die Hamburger Szene dachten.
Julia kannte das Kaschinsky’s von früher. Die Scheiben der Kneipe waren beschlagen, und drinnen roch es nach Schweiß und verschüttetem Bier. Sie schaute sich kurz um; anscheinend war Renard noch nicht da. Sie suchte sich einen der kleinen Tische am Fenster aus. Es war noch nicht viel los, aber später würde man im Gewühl kaum noch einen Fuß auf den Boden bekommen.
Sie spielten gerade ein Stück von Fleetwood Mac, als ein Mann, der sein langes Haar zu einem Zopf gebunden hatte und eine schmuddelige weiße Daunenjacke trug, sie als mögliche Beute erspähte und von der Bar auf sie zugetorkelt kam. Er murmelte etwas, das wie »Rehbein« klang. Sie wollte ihn gerade wegschicken, als er von der weiblichen Bedienung grob zurechtgewiesen wurde.
Die Frau beugte sich anschließend zu ihr hinunter. »Julia?«
Sie nickte erstaunt.
»Dein Typ hat eben hier angerufen. Ist wohl ein Franzose – er hat so komisch Englisch gesprochen. Jedenfalls soll ich dir sagen, dass er nicht kommen kann.«
»Ach ja?«
Die junge Frau grinste; an einem ihrer Schneidezähne blitzte ein hellgrüner Zirkonia-Stein auf. »Tja, Schätzchen. Er will dich nun woanders treffen. Aber ob ich mir so was gefallen lassen würde … Ich meine, wo soll das enden?«
»Und wo?«, fragte Julia, die auf das Problem, was eine solche Verhaltensweise über die Beziehungstauglichkeit aussagte, nicht eingehen wollte.
»Hab den Namen des Kerls vergessen, wo er auf dich wartet. Vielleicht ein Freund von ihm.« Sie grinste anzüglich. Flotter Dreier, schien sie zu denken.
»Keine Idee, wie er hieß?«
»Schätzchen: Richte dem Typen aus, dass wir hier eine Kneipe betreiben und nicht die Vermittlung sind. Hat dein Freund kein Handy?«
Julia wartete, bis sie wieder abgezogen war, und zog ihr Telefon hervor. Sie hatte eine SMS empfangen, das aber wegen des Lärms in der Kneipe nicht gehört. Er hatte ihr auf Englisch geschrieben, weil weder ihr Französisch noch sein Deutsch zur Verständigung ausreichten. Sie las: »Bin verfolgt worden. Treffe dich um 12 bei Bobby Poor in der Nähe des Wassers. Sei vorsichtig.«
Was sollte das? Machte er sich lustig über sie? Litt der Typ unter Verfolgungswahn? Ein gewisser Hang zur Theatralik war ihr bei ihrem ersten Treffen schon aufgefallen. Bobby Poor? Sie kannte niemanden dieses Namens. Und irgendwie klang es gar nicht wirklich wie ein Name. Hatte Renard Angst, dass die SMS von jemandem abgefangen wurde? War sie verschlüsselt? Aber auf welcher Basis? Sie besaß keinen Dechiffriercode. Himmel, sie war eine Klimatechnik-Ingenieurin. Bobby Poor – Robert Arm … Was hieß das auf Französisch? Robert Pauvre. Das sagte ihr nichts. Julia erhob sich und verließ die Kneipe, ohne etwas bestellt oder getrunken zu haben.
Draußen hatte ein feiner Nieselregen eingesetzt. Julia hatte natürlich nicht daran gedacht, einen Regenschirm mitzunehmen. Sie ging zurück zur Reeperbahn, deren Anonymität eine beruhigende Wirkung auf sie hatte. Hier war sie eine Passantin unter vielen. Niemand beachtete sie. Hoffte sie zumindest. Sie las noch mal die kurze Nachricht und versuchte angestrengt, die Botschaft zu entschlüsseln: Bobby Poor? Arm und Reich. Bobby Rich , Bobby Reich … Verdammt: Es gab ein Restaurant namens »Bobby Reich«! Das Lokal lag direkt am Wasser, an der Alster, hatte sogar einen Bootssteg und war nicht weit von Sonjas Wohnung entfernt. Sie hatte im Sommer mit Sonja zusammen dort Eis gegessen. Doch im Winter, um diese Uhrzeit und bei diesem Wetter war draußen am Steg sicherlich nur Totentanz angesagt. Ein einsamer Treffpunkt mitten in der Stadt. Konnte er das meinen? Und wenn ja, warum
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