Dornteufel: Thriller (German Edition)
Sie war mehr oder weniger in Internaten aufgewachsen, weil niemand Zeit für sie, die ungeplante Nachzüglerin, gehabt hatte. In einem dieser Internate, einer reinen Mädchenschule, hatten sie und Julia sich kennengelernt. Wegen der wechselnden Engagements ihrer Eltern war Julia oft bei einer Tante oder im Internat gewesen. Das ähnliche Schicksal hatte die beiden Mädchen wohl zusammengeschweißt, auch wenn der familiäre Hintergrund völlig unterschiedlich war. Wenn Julia es genau bedachte, hatte sie Sonja immer um ihr gutbürgerliches Elternhaus beneidet und sich deswegen benachteiligt gesehen. Durch dieses Unterlegenheitsgefühl war sicherlich auch ihre Berufswahl beeinflusst worden. Sie hatte etwas Grundsolides machen wollen und später das Glück gehabt, dass ihre naturwissenschaftlichen Neigungen von den Lehrern besonders gefördert worden waren. Das alles ging ihr jetzt durch den Kopf, während sie ihre Freundin betrachtete. Sie konnte ihr nicht lange böse sein. An Familie war nur der Bruder für Sonja da, die zudem keinen Partner hatte, mit dem sie reden konnte.
»Was sagt dein Bruder denn dazu?«, fragte Julia schließlich in versöhnlichem Ton.
Sonja strich mit den Fingernägeln über die Armlehne ihres Sessels und malte Muster auf den Alcantarabezug. »Er hat es jedenfalls nicht auf die leichte Schulter genommen oder ins Lächerliche gezogen, falls es das ist, was du vermutest.«
»Hast du ihm erzählt, dass ich unbefugt in eines der Labors in Bihar eingedrungen bin? Was ich dort gesehen habe?«, wollte Julia wissen.
Sonja wischte über den Stoff und strich ihn wieder glatt. Dann glitten ihre Fingerspitzen erneut über die Armlehne. »Musste ich doch. Wie hätte ich denn sonst erklären sollen, dass du mitten in der Nacht dort abgehauen bist? Dass du dich ohne Geld, Pass oder sonst etwas allein durch Indien schlägst? Dass du dein Handy verschenkst, um nicht … ausfindig gemacht zu werden?«
»Du hättest es als eine Spinnerei von mir abtun können. Er hält mich doch sowieso für nicht ganz zurechnungsfähig«, erwiderte sie mit einem mühsamen Lächeln. Ihr gefiel nicht, dass die Dinge damit eine neue Wendung bekommen hatten.
Sonja winkte ab. »Das war doch früher. Damals waren wir noch Kinder, oder?«
Wie wahr, dachte Julia. Zumindest du und ich.
»Es hat sich einiges geändert seitdem«, fuhr Sonja fort. »Er hat sich geändert. Und es hat Stefan sehr wohl zu denken gegeben, was du mir da erzählt hast. Aber er behauptet auch, dass es so nicht gewesen sein kann, wie du erzählt hast. Er kennt das Werk in Indien. Du musst irgendwas falsch interpretiert haben. Als du plötzlich verschwunden bist, haben sie dich natürlich überall gesucht. Die haben ja auch eine gewisse Verantwortung für ihre Expats dort, nicht wahr? Stefan sagt, dass der für das Projekt mitverantwortliche Facility-Manager ziemlichen Ärger mit der Vorstandsvorsitzenden bekommen hat, weil du verschwunden bist.«
Tony Gallagher – geschieht ihm recht, dachte Julia.
»Stefan würde wirklich gern mit dir darüber reden.« Sonja fixierte sie mit ernstem Blick. »Ich weiß, dass ihr euch früher nicht so toll verstanden habt, aber mein Gott, ihr seid jetzt erwachsen!«
»Ich kann ihm nicht trauen«, stieß Julia hervor, bereute ihren Ausbruch jedoch augenblicklich. Sie hatte Sonja nie erzählt, was in jener Unfallnacht zwischen ihr und Stefan passiert war.
Zum Glück reagierte Sonja nicht auf ihren Einwand, sondern fragte: »Was wird das BKA in deiner Angelegenheit unternehmen?«
»Ach die …« Julia winkte müde ab. »Die sind sehr wichtig, haben aber wenig Zeit. Sie haben sich das alles mehrfach angehört und werden in der Sache natürlich ein paar Nachforschungen anstellen. Sie kümmern sich um alles, und ich bin raus. Es sei denn, sie brauchen mich später mal, um eine Zeugenaussage zu machen, was wohl sehr, sehr unwahrscheinlich ist.«
»Kein Zeugenschutzprogramm oder so?«
Julia lachte auf. »Dafür besteht kein Grund, Sonja. Sie denken nicht, dass ich in Gefahr bin. Weshalb auch? Es gibt keine Beweise.«
Sonja kniff die Augen zusammen. »Was ist eigentlich mit diesem Mann, Parminski oder so, den du im Labor gesehen haben willst? Suchen sie den nicht?«
Julia spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten. »Es gibt keinen Robert Parminski«, antwortete sie und bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Es hat ihn anscheinend auch nie gegeben.«
»Wie bitte? Da müssen doch Leute sein, die
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