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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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die Gestalt des Fürsten Myschkin von den anderen beiden Epileptikergestalten der großen Romane ab: hinter Myschkins Krankheit wird auf besondere Weise, nämlich »positiv«, die gleiche Krankheit des Autors sichtbar: die »heilige Krankheit« Dostojewskijs selber, obwohl von einer Selbstdarstellung nicht die Rede sein kann, wenn auch Dostojewskij dem Fürsten Myschkin viele seiner eigenen Ansichten in den Mund legt, so etwa den zentralen Vorwurf gegen die römisch-katholische Kirche, sie habe Christus verraten und die Kirche zum Staat gemacht.
    Trotz der grundsätzlichen Kluft zwischen dem Fürsten Myschkin als einer literarischen Gestalt und dem Autor Dostojewskij sollte man jedoch bedenken, dass vielleicht keine andere Gestalt in dessen Œuvre als so »typisch Dostojewskij« empfunden wird wie der Fürst Myschkin. Dies hat allerdings verschiedene Gründe. Einer davon aber liegt darin, dass Dostojewskijs eigene Krankheit der gleichen Krankheit des Fürsten Myschkin ein geheimes Echtheitssiegel aufzuprägen scheint, sobald man sich mit Dostojewskijs Biographie vertraut gemacht hat.
    Ein anderer Grund dafür, die Gestalt des Fürsten Myschkin wie keine andere Gestalt in Dostojewskijs Œuvre als »typisch Dostojewskij« zu empfinden, liegt in der Aura des Rätselhaften, des Unauslotbaren, die ihn umgibt. Myschkins Denken und Fühlen scheint aus Quellen gespeist zu werden, die sich einer eindeutigen Festlegung entziehen. Von allen Gestalten Dostojewskijs gibt der Fürst Myschkin dem Leser die meisten Rätsel auf – dies gilt auch für die Dostojewskij-Forschung, die sich angesichts des Fürsten unaufhörlich, so möchte ich sagen, in die Enge getrieben sieht.
    Die menschliche Individualität als Geheimnis – das ist es, was wir vor allem anderen mit der dichterischen Welt Dostojewskijs verknüpfen. Dostojewskij hat sich selber bekanntlich als einen »Realisten im höheren Sinne« bezeichnet – mit der Begründung, er »schildere alle Tiefen der menschlichen Seele«. Wörtlich lautet die Selbstdefinition aus dem Jahre 1881, dem Todesjahr Dostojewskijs: »Man nennt mich einen Psychologen: das stimmt aber nicht. Ich bin nur ein Realist im höheren Sinne, d.h., ich schildere alle Tiefen der menschlichen Seele.« [51]  
    Was die Technik dieser Schilderungen, ihre erzähltechnische Strategie betrifft, so hat Dostojewskij in einem Brief aus dem Jahre 1876 (an Wsewolod Solowjow vom 28. Juli aus Bad Ems) seine Haltung zur Sprache, zur Verbalisierung, zur Artikulation von Gedanken folgendermaßen dargestellt: »Wenn übrigens andererseits viele der bekanntesten Geistesriesen, Voltaire zum Beispiel, anstatt mit Sticheleien, Andeutungen, halb Ausgesprochenem und nicht zu Ende Gesagtem zu arbeiten, sich plötzlich entschlossen hätten, alles auszusprechen, was sie selber glauben, ihr Innerstes rückhaltlos darbieten würden, ihr ganzes Wesen – dann, glauben Sie mir, könnte nicht ein Zehntel des bisherigen Effektes gewahrt werden. Mehr noch: man würde über sie nur lachen. Ja, der Mensch hat irgendwie überhaupt nicht gern, mit einem letzten Wort konfrontiert zu werden, mit einem ›ausgesprochenen‹ Gedanken; er sagt sich: Der ausgesprochene Gedanke ist Lüge .« [52]  
    Der letzte Satz ist ein Zitat aus einem Gedicht des russischen Romantikers Fjodor Tjutschew, den Dostojewskij sehr schätzte. »Der ausgesprochene Gedanke ist Lüge« – diese Zeile Tjutschews (bezeichnenderweise aus dem Gedicht Silentium !) darf offensichtlich als Formel der Sprachphilosophie Dostojewskijs angesehen werden. Zu bedenken bleibt allerdings, dass die Sprache selbst es ist, die die Einwände gegen ihre eigene Unzulänglichkeit vollendet zum Ausdruck bringt, ein Paradoxon, dem hier nicht weiter nachzugehen ist.
    Kein »letztes Wort«, aber Schweigen
    Festzuhalten bleibt: Die soeben zitierte Briefstelle steht im großen Zusammenhang einer ganz bestimmten Skepsis Dostojewskijs gegenüber der Sprache als Verbalisierung. Dostojewskijs Poetik kennt nicht das mot juste eines Flaubert, sondern nur merkmalhaltige Rede. Dies schafft für den Übersetzer der Romane Dostojewskijs eine ganz eigentümliche Schwierigkeit: alle seine Personen sprechen eine eigene Sprache – und dies gilt auch für den jeweiligen Erzähler. Dostojewskij lässt das Gemeinte durch merkmalhaltige Rede systematisch einkreisen, aber nicht explizit aussprechen – es bleibt ausgespart.
    Die Möglichkeit, einen Sachverhalt (oder eine Person) zu verkennen, wird also von

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