Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
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Dostojewskijs Erzähltechnik im ersten Teil seines Romans Der Idiot ist nun in ihren Grundzügen kenntlich gemacht worden. Für alles weitere Geschehen des Romans wird hier die Basis geschaffen, der Grundriss für die Architektur der weiteren Teile. Es zeigte sich, dass Erzähltechnik immer nur in ihrer Funktion für das Dargestellte »verstanden« werden kann und nicht durch Isolation einzelner Kunstgriffe.
Besonderheiten
Was die Besonderheiten betrifft, so erfordert Der Idiot eine ganz spezielle Erläuterung. In mehrfacher Hinsicht sticht der Roman von den anderen der großen fünf ab. In keinem anderen Werk hat Dostojewskij das »Prinzip Gothic« so zur Herrschaft gebracht wie hier; nirgends sonst hat Dostojewskij mit solcher Radikalität eine Welt vor uns hingestellt, wo nichts so ist, wie es scheint; und schließlich findet sich in keinem anderen seiner Werke eine derart verfremdete Liebesgeschichte wie die zwischen Myschkin und Nastasja Filippowna. All diese Besonderheiten kommen zwar minimalisiert, gleichsam harmloser, so könnte man sagen, auch in seinen anderen Werken vor, wenn auch nichts, was Dostojewskij schreibt, wirklich harmlos ist. Der Idiot hat aber noch eine weitere Besonderheit, die in seinen anderen Werken überhaupt nicht festzustellen ist, auch nicht im Ansatz. Und es bleibt zu fragen, ob ihm diese Besonderheit hier im Umgang mit der zu gestaltenden Sache einfach nur unterlaufen ist, ohne dass er sie selber bemerkt oder gar gewollt hätte. Diese Besonderheit besteht darin, dass Der Idiot dem Camp-Kanon Susan Sontags zuzuordnen ist. [70]
Was versteht Susan Sontag unter »Camp«? Sehen wir uns den von ihr aufgestellten Camp-Kanon an. Sie zählt auf: Die Zeichnungen Aubrey Beardsleys; Schwanensee ; Bellinis Opern; Viscontis Aufführung der Salome ; Schoedsacks King Kong ; Tiffany-Lampen; Damenmode der zwanziger Jahre (Federboas, mit Fransen und Perlen besetzte Kleider etc.). Dieser Kanon ist zu erweitern um Dostojewskijs Idiot . Susan Sontag kommt indessen in diesem Zusammenhang nirgends auf Dostojewskij zu sprechen.
»Camp« bezeichne eine bestimmte Art von Sensibilität, unzweifelhaft modern, für die es bislang keinen Namen gebe, so Susan Sontag in ihren Notes on »Camp« aus dem Jahre 1964, untergebracht in ihrem Essay-Band Against Interpretation von 1969, dessen Titelessay sich von jeder nach Regeln kodierten Interpretation von Kunstwerken absetzt, weil ein Kunstwerk in solchem Zugriff immer nur »verarmen« könne. Sie will unsere ästhetische Erfahrung von den Ansprüchen unzuständiger Gelehrsamkeit befreien. Das geht in die gleiche Richtung wie Martin Heideggers Auszeichnung des »vorwissenschaftlichen« Umgangs mit Dichtung als Ausgangsbasis einer Literaturwissenschaft im strengen Sinne. Was nun Camp betreffe, so gesteht sie, »genauso stark« davon angezogen wie abgestoßen zu werden. Die ästhetische Erfahrung sei hier frei von Moral: Camp und Tragödie schließen sich aus. Einerseits sei Camp eine Qualität des ästhetischen Gegenstands, andererseits kann aber auch etwas als Camp wahrgenommen werden, das als Gegenstand nichts damit zu tun habe. Titus Andronicus (Shakespeare) und Strange Interlude (O’Neill) seien »fast« Camp oder könnten zumindest als Camp gespielt werden. Nicht alle Kunst kann als Camp rezipiert werden. So seien etwa Sherwood Andersons Winesburg, Ohio und Ernest Hemingways For Whom the Bell Tolls nur bis zur Lächerlichkeit schlechte Kunst, aber nicht so schlecht, um Vergnügen zu bereiten. Damit etwas Camp sein könne, dazu seien Unschuld und Naivität gefordert. So habe Anita Ekberg in Fellinis La Dolce Vita nicht bemerkt, dass sie vom Regisseur zu einer Selbstparodie verführt wurde. Das Ergebnis sei Camp.
Übertreibung, Phantastik, Leidenschaft und Naivität gehöre zu Camp. Wörtlich heißt es: »Das Hauptziel von Camp besteht darin, das Seriöse zu entthronen. Camp ist spielerisch, antiseriös. Genauer gesagt: Camp bedeutet eine neue, mehr komplexe Beziehung zum ›Seriösen‹. Man kann seriös frivol sein, und frivol seriös.«
Das echt Seriöse aber hat seine Würde darin, dass es erreicht hat, was es intendierte. Intention und Ausführung stehen in einer direkten Beziehung. Deswegen schätzen wir die Ilias , die Kunst der Fuge , Rembrandt, die Gedichte John Donnes, die Göttliche Komödie , Beethovens Streichquartette oder, wenn es um Menschen geht, Sokrates, Jesus, den heiligen Franziskus, Napoleon, Savonarola, kurzum: »das Pantheon
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