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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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der Hohen Kultur: Wahrheit, Schönheit und Seriosität«. Camp kennt kein Œuvre, ist immer nur als »Fragment« möglich, in dem Sinne, dass dieses Fragment als separates Werk wahrgenommen wird.
    Der »Connaisseur« des Camp darf nicht mit dem Dandy verwechselt werden. Des Esseintes in Joris-Karl Huysmans A rebours ( Gegen den Strich ) oder Paul Valérys Monsieur Teste widmeten sich dem »guten Geschmack«. Der Connaisseur des Camp findet sein weitaus ingeniöseres Vergnügen an der Kunst der Massen. Oscar Wilde sei unterwegs zu Camp, antizipiere »den demokratischen Esprit des Camp«. Zitiert wird er mit dem Statement: »Das Leben ist eine viel zu wichtige Sache, um darüber jemals ernsthaft zu sprechen.« Der Dandy »neuen Stils« schätzt das Vulgäre. »Wo der Dandy ständig Anstoß nimmt oder sich langweilt, sieht sich der Connaisseur des Camp ständig amüsiert, erfreut.« Camp führt einen neuen Standard ein: Künstlichkeit als ein Ideal, das Theatralische als Voraussetzung. »Camp-Geschmack ist seiner Natur nach nur in Wohlstandsgesellschaften möglich, in Gesellschaften oder Kreisen, die fähig sind, die Psychopathologie des Luxus wahrzunehmen.« Man sieht, in Susan Sontags Notizen zu »Camp«, die sie zu insgesamt 58 rhapsodischen Thesen ordnet, mischen sich Psychologie, Soziologie und philosophische Ästhetik. Ihr Fazit: »Camp ist durch und durch ästhetisch.«
    Die Haltung des Camp-Connaisseurs zum Kunstwerk ist weder inhaltlich noch formal orientiert, sondern bewegt sich auf dem schmalen Grat der Anmutungsqualität, die immer ein ganzheitliches gestaltpsychologisches Phänomen ist. Historisch gesehen sei der Camp-Geschmack im 18. Jahrhundert aufgekommen, mit dem Schauerroman (Gothic novel) und den künstlichen Ruinen.
    Als zweiter der großen fünf Romane Dostojewskijs liefert Der Idiot aus heutiger Sicht ein regelrechtes Destillat all dessen, was, auch im negativen Sinne, als »typisch Dostojewskij« gilt. Mit dieser Exemplarik aber steht Der Idiot paradoxerweise aus dem Œuvre Dostojewskijs heraus, entzieht sich nicht nur dem Selbstverständnis seines Autors, sondern auch der seriösen Bewunderung aller Dostojewskij-Verehrer. Dass Dostojewskij selbst seinen Roman ernst gemeint hat, darüber kann kein Zweifel bestehen. Wie jedoch der Fürst Myschkin gemeint ist, darüber herrscht in der Rezeptionsgeschichte Uneinigkeit. Ein Todbringer? Wie Hamlet oder Billy Budd?
    Der Idiot gerät, wenn man ihn dem Camp-Kanon zuordnet, in eine Nachbarschaft, von der sich Dostojewskij nichts träumen ließ, ja gar nichts träumen lassen konnte. Plötzlich sind Beardsley und King Kong mit präsent, wenn auch eine direkte Linie von Dostojewskij zurück in die Tradition des englischen Schauerromans führt, mit E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels als maßgeblichem Bindeglied. [71]   Hier liegen Ansätze zu neuer Ästhetik.
    Susan Sontag hat den Begriff Camp, der aus der Homosexuellenszene stammt, hochgespielt und zu einem ästhetischen Credo werden lassen, das einen neuen Blick auf bestimmte Phänomene der Tradition legitim werden lässt, ohne aber das Pantheon der hohen Kultur zu kritisieren. Camp wird zum Signum elitärer Reflexion jenseits des Kanons, die ihren eigenen Kanon hat, der schon als Sensibilität da ist, noch bevor für sie ein Name aufkommt. Für eine breite Öffentlichkeit wird Camp nie aktuell sein; und eine Camp-Gemeinde wird es auch nicht geben. Welcher Connaisseur möchte schon einem Kollektiv angehören? Wird Dostojewskijs Idiot zu diesem anderen Kanon in Beziehung gesetzt, so wird der Blick auf Qualitäten dieses Romans frei, die sonst bestenfalls negativ auffallen konnten.
    Vladimir Nabokov etwa sieht in Dostojewskijs Idiot nichts anderes als ein »verrücktes Haschee« (crazy hash), wie er es in seinen Vorlesungen zur russischen Literatur ausdrückt. [72]   An anderer Stelle, in seinem Kommentar zu Puschkins Eugen Onegin , bezeichnet er Dostojewskij als einen »weit überschätzten« Autor seiner Zeit, der Schauerromane mit sentimentalen Zügen geschrieben habe. [73]   Lässt man die Kennzeichnung »überschätzt« weg, so ist zu sagen: Nabokov hat völlig recht, Dostojewskijs Idiot ist tatsächlich ein »verrücktes Haschee«, und das in der Tradition des englischen Schauerromans mit sentimentalen Zügen. Die Frage ist nur, ob das wirklich eine negative Typisierung ist. Im Licht Susan Sontags wird all dies zur Anerkennung eines Werks, das dem Camp-Kanon zuzurechnen ist. Nabokovs

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