Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Abwertung hat einen primär ästhetischen Charakter, er wertet nicht inhaltlich.
Das aber tut Sir Galahad (Pseudonym für Bertha Diener-Eckstein) in ihrem Idiotenführer durch die russische Literatur (1925). Sie macht sich an Dostojewskijs Menschenbild fest, spielt das Homers und Balzacs dagegen aus. »Dostojewskijs Figuren«, sagt sie, bringen es »als Russen und Unterwertige« bloß zu einem »verdienten Kolportageschicksal«. Es seien »Lemuren« (von lat. lemures = »Seelen der Abgeschiedenen«), die immer wieder »auf höchst verwickelte Methode sich und Dostojewskijs Kunst das Grab« schaufeln. »Erledigt geboren, steht keiner unter steigender Sonne, keiner mit der Stirn in den Sternen.« Es gebe bei Dostojewskij keine »Wohlgeratenen«, seine Figuren seien »Mannequins der eigenen Psychologie« und seiner »Dämonie« fehle übergeordnet das »heroische Prinzip«. Solcher Anlauf hat, wie der Leser schnell erfährt, den Fürsten Myschkin zum Ziel: »Auf den ersten tausend Seiten hat sich der Leser berechtigt gefühlt, den ›Idioten‹ (Fürsten Myschkin) für die Hauptfigur zu halten, nachdem er mehrere epileptische Anfälle, darunter einen ganz schweren samt ekelsten Vor- und Nachwehen mit ihm durchgemacht. Stets in das Zentrum der Ereignisse gerückt, weiß der ›Held‹ zudem nie, in wen oder ob überhaupt er verliebt ist, bleibt jedoch aus Güte stets bereit, Gatte zu sein, wem immer das dienlich erscheinen möge. Halb verhöhnt, halb geduldet im Schwätzer- und Schmarotzerkranz, dabei immer recht freundlich, und überdies von einer Schweizer Heilanstalt als Schwachsinniger ärztlich beglaubigt, steht es mit den messianischen Aussichten zum besten.« Sir Galahad biegt sich die Handlung zu ihren Zwecken zurecht und kommt schließlich mit dem Schluss des Romans an ihr Ziel: »Rogoschin hat Nastasja Filippowna erstochen, nachdem sie vor der Trauung mit dem Idioten (Fürsten Myschkin) noch an der Kirchentür in vollem Brautschmuck weggestürzt ist, wieder mit ihm, in sein Haus und, halb mit Absicht, auch in diesen Tod. Niemand weiß noch von dem Mord, nur der Idiot, auf der Suche nach Nastasja Filippowna, geht bang, nach den verhängten und geschlossenen Fenstern blickend, gleichsam vor dem Verbrechen auf und ab. Da kommt Rogoschin die Straße entlang, führt ihn schweigend ins Haus. Schließlich zu dem Bett. Ein Leichenfuß steht heraus. Rogoschin fragt, ob man den Geruch schon spüre. Er habe ›gute amerikanische Wachsleinwand‹ gekauft und ›vier Fläschchen einer desinfizierenden Flüssigkeit‹.« Sir Galahad bescheinigt Dostojewskij für die Gestaltung dieser Geschehnisfolge eine »zynische Wollust«. [74]
Es ist offenbar kein Zufall, dass Der Idiot zu solcher Abwehr provoziert. Es kommt aber darauf an, die hier provozierenden Elemente im Durchblick auf ihre Camp-Qualitäten zu integrieren. Wie aber den dafür nötigen »Schritt zurück« vollziehen und die für Dostojewskijs ungewollte Leistung adäquaten Formulierungen wählen? Nicht nur fehlen die Begriffe. Die Aura des Seriösen, die alle literarischen Texte Dostojewskijs umgibt, wird die ästhetische Erfahrung, die der Idiot freisetzt, immer wieder blockieren. Das bewegliche Sehen des inneren Auges zu kultivieren ist nicht jedermanns Sache. Ein Abgleiten in die Verneinung, wie es Vladimir Nabokov und Sir Galahad an den Tag legen, wird aber den Camp-Qualitäten nicht gerecht.
Alles ist übertrieben, extravagant, ja phantastisch in Dostojewskijs Idiot . Gehen wir dies im Einzelnen durch. Rogoschins Haus, labyrinthisch geräumig und düster, ist die exemplarische Immobilie des englischen Schauerromans. In Wahrheit steht dieses Haus gar nicht in Petersburg, sondern in unserer Seele. Das gleiche Haus hat auch in Alfred Hitchcocks Psycho seine düsteren Geheimnisse. Rogoschins kindisch gewordene Mutter findet im Skelett der von ihrem Sohn ermordeten Mrs. Bates ihr Pendant des 20. Jahrhunderts. Dostojewskij aber lässt es sich nicht nehmen, auch noch Holbeins Toten Christus im Grabe als Kopie in dieses Totenhaus einzuschmuggeln, um uns auf Nastasja mit offener Stichwunde tot im Bett vorzubereiten, ebenfalls lang hingestreckt und nackt, aber unter einem amerikanischen Wachstuch mit abgestreiften Dessous. Das ist, weil seriös gemeint, Camp in Reinkultur. Von der Fliege, die kurz auffliegt und sich dann niedersetzt und verstummt, ganz zu schweigen.
Nichts ist in Dostojewskijs Roman das, was es scheint: der Idiot ist kein Idiot, der einzige
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