Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
unerhebliche Schwierigkeiten.
Es scheint kein Zufall zu sein, dass sich die bisherige Forschung mit Vorliebe der Aufschlüsselung zeitgenössischer Anspielungen gewidmet hat. Diese sind hier allerdings besonders zahlreich, denn es war das erklärte Ziel Dostojewskijs, ein politisch brisantes Pamphlet zu schreiben, dessen Koordinaten aber nicht im Politischen aufgehen.
Indem Netschajew zu einer nachhaltig diskutierten Realität des öffentlichen Lebens werden konnte, sieht Dostojewskij seine schlimmsten Befürchtungen angesichts der revolutionären Bewegung bestätigt. Seit Beginn der sechziger Jahre beobachtet Dostojewskij im Denken der russischen Radikalen eine Entwicklung, die für ihn das wahre Wesen des Sozialismus zutage treten läßt. Der rationale Egoismus, wie ihn etwa Tschernyschewskij im Namen eines vernünftigen Gemeinwesens propagiert, führt zwangsläufig, so folgert Dostojewskij, zu Haltungen elitärer Willkür derer, die sich im Besitz der besseren Einsicht fühlen. Als die zentrale Brutstätte solcher Verführungen durch die instrumentelle Vernunft betrachtet er den Liberalismus der vierziger Jahre. Am 3. Februar 1873 schreibt er an A. A. Romanow, den späteren Zaren Alexander III.: »Die Belinskijs und Granowskijs würden es nicht glauben, wenn man ihnen sagen könnte, daß sie die unmittelbaren Väter der Netschajews sind.« [86]
Netschajews Denken und Tun sind für Dostojewskij in ihrer beirrenden Mischung aus operettenhafter Romantik und eiskaltem Fanatismus der vollendete Beleg dafür, was durch den Liberalismus wahrhaft an die Macht gebracht wurde.
Eine andere zentrale Gestalt der Bösen Geister , die zunächst ausschließlich unter dem Namen des empirischen Vorbilds die Entwürfe beherrscht, ist Stepan Werchowenskij, dessen Zeichnung im Wesentlichen auf den Historiker Timofej Granowskij (1813–1855) zurückgeht, den auch die soeben zitierte Briefstelle eigens nennt. Granowskij, Professor an der Universität Moskau, zählte zu den prominentesten Gegnern der russischen Slawophilen. Dostojewskijs maßgebende Informationsquelle ist hier die Granowskij-Biographie von A. Stankjewitsch (Moskau 1869), auf die ihn eine Rezension Strachows aufmerksam gemacht hatte. Allerdings sind bei der vollen Entfaltung der Gestalt Stepan Werchowenskijs auch Züge anderer Persönlichkeiten vergleichbarer politischer Orientierung eingeflossen.
Die Gestalt des »großen Schriftstellers« Semjon Karmasinow ist ganz und gar an Iwan Turgenjew (1818–1883) ausgerichtet. Zwar schildert uns Dostojewskij Karmasinow als einen »sehr kleinen« Herrn, während Turgenjew überdurchschnittlich groß war, doch ist solche Abweichung offensichtlich als Hinweis auf das wahre Format des so erfolgreichen Zeitgenossen gemeint. Der Name leitet sich von »Karmesin« ab und unterstellt Turgenjew schamlose Anbiederungsversuche bei der »roten« Jugend. Mehrere Werke Turgenjews werden in den Bösen Geistern zum Ziel der Satire, so der Roman Rauch (1867), die Erzählungen Gespenster (1864) und Genug (1865), die Schilderung der Hinrichtung Troppmanns (1870) und eine essayistische Nachbemerkung Zum Roman ›Väter und Söhne‹ (1869). Verärgert und empört erkannte sich Turgenjew in Karmasinow wieder und schrieb am 15. Dezember 1872 aus Paris an Frau M. A. Miljutina: »Dostojewskijs Vorgehen hat mich keineswegs überrascht. Er hat mich damals schon gehaßt, als wir beide jung waren und am Anfang unserer literarischen Laufbahn standen, obwohl ich mit nichts diesen Haß verdient habe; aber die grundlosen Leidenschaften, so sagt man, sind die stärksten und die dauerhaftesten […]. Anstatt mich zu verleumden, hätte er lieber das Geld zurückzahlen sollen, das er sich bei mir geliehen hat […]. Ich kann nur bedauern, daß er sein nicht zu bezweifelndes Talent zur Befriedigung solch häßlicher Gefühle einsetzt […].« [87]
Wenn derart offenkundig Pjotr Werchowenskij auf Netschajew verwies, Stepan Werchowenskij auf Granowskij, Semjon Karmasinow auf Turgenjew, so ist es nicht verwunderlich, dass sich die Forschung veranlasst sah, möglichst zu sämtlichen Gestalten der Fiktion das empirische Vorbild zu ermitteln. So weiß man, dass Dostojewskij bei der Zeichnung Schatows auf die religiösen und moralischen Ansichten Konstantin Golubows zurückgriff, eines eigenwilligen philosophischen Autodidakten, der in polemischer Reaktion auf die Gedanken Ogarjows zwischen »innerer« und »äußerer« Freiheit unterschied und alle
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