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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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auf: mit Pjotr Werchowenskij als dem Exekutor des Bösen und mit Stawrogin als dem Geist, der den kreativen Nihilismus demonstriert. Dieser Sinn, der allegorische Sinn, ist zeitbezogen: erhebt Anspruch, die geschichtliche Situation Russlands zu deuten, die Gefahren kenntlich zu machen, die in der instrumentellen Vernunft lauern, in den falschen Göttern, die von Westeuropa nach Russland übergegriffen haben.
    Dieser zeittypische Sinn wird jedoch von einem überzeitlichen Sinn in sich aufgenommen, der die Bedingungen angibt, unter denen sich die Apokalypse vollzieht. Man beachte in solchem Zusammenhang Dostojewskijs Handhabung des Epilogs. Die Bösen Geister haben drei Epiloge. Der erste betrifft Stepan Trofimowitsch Werchowenskij, der zweite betrifft die »Unsrigen« mit Pjotr Werchowenskij an der Spitze, und der dritte betrifft Stawrogin. Diese Staffelung hat systematischen Charakter: das Kernstück der Handlung, die Ermordung Schatows durch Pjotr Werchowenskij und die Adoption dieses Mordes durch den Selbstmörder Kirillow, liegt genau zwischen Stepan Werchowenskij und Stawrogin. Das heißt: Stepan Werchowenskij ist der Vater zweier Söhne: er gilt als der leibliche Vater des Mörders und der geistige Vater Stawrogins, dessen Innerlichkeit im politischen Drama seiner »Jünger« veranschaulicht wird. Das politische Drama veranschaulicht als herausgelegte Innerlichkeit Stawrogins den Denkprozess, durch den Stawrogin in den Selbstmord getrieben wird.
    Die Genese solch apokalyptischer Wirklichkeit sieht so aus, dass der Debattierklub Stepan Werchowenskijs, in dem jeder Gedanke erlaubt ist, die Disposition dafür schafft, jeden Gedanken in die Tat umzusetzen. Dies genau vollzieht Stawrogin, der geistige Sohn Stepan Werchowenskijs. Allerdings vollzieht Stawrogin dies nicht freudig, sondern aus Ekel an dem, was ist: er lehnt die Schöpfung ab, weil sie das Böse zulässt. Seine Antischöpfung ist, aus seiner Sicht, Destillat, Konzentrat, Summe dessen, was er als das Charakteristikum der Schöpfung ansieht: er veranstaltet mit den drei Gestalten, die er inspiriert, den Lauf der Dinge in nuce: der Idealist wird ermordet, den Mörder trifft keine Strafe, und den Mord adoptiert ein philosophierender Selbstmörder.
    In seinen drei Schülern wirkt Stawrogin durch seine Sentenzen: Schatow sagt zu ihm: »Aber waren Sie es nicht, der mir gesagt hat, wenn man Ihnen auch mathematisch bewiesen hätte, daß die Wahrheit außerhalb Christi liege, so würden Sie doch lieber bei Christus bleiben als bei der Wahrheit? Haben Sie das gesagt? Haben Sie das?«
    Wenn somit die Möglichkeit eingeräumt wird, dass der Logos falsch sein kann, was sich von der Wahrheit Christi nicht sagen lässt, so vermittelt Stawrogin Kirillow wiederum den Glauben an die syllogistische Wahrheit. Kirillow setzt sich, folglich, an die Stelle Gottes, indem er sich selber tötet, wird damit »Mensch-Gott« ( čelovekobog ). Und Pjotr Werchowenskij wird von Stawrogin empfohlen: »Überreden Sie vier Mitglieder [des Fünferkomitees], das fünfte unter dem Vorwand zu ermorden, daß es sie denunzieren werde, und Sie werden sie alle durch das vergossene Blut, wie mit einem Knoten, zusammenbinden. Sie werden Ihre Sklaven sein und es nicht wagen, zu rebellieren und Rechenschaft zu verlangen.« [85]  
    Man könnte sagen: Aus den einander ausschließenden Nebenbemerkungen Stawrogins ergibt sich die Wirklichkeit des Bösen. Wir berühren mit solcher Feststellung den Nerv der poetologischen Problematik in den Bösen Geistern . Der Handlungskern war von Dostojewskij als das Produkt des kreativen Nihilismus Stawrogins konzipiert worden: gleichzeitig aber als Veranschaulichung der Innerlichkeit Stawrogins. Das heißt: das Individuum Stawrogin hatte mit den Gestalten seiner eigenen Innerlichkeit in einen realen Dialog zu treten. Drei Personen suchen einen Autor – und der Autor heißt hier Stawrogin. Wenn man diese Überlegung durchführt, wird klar, warum sich Stawrogin in den Dialogen mit Schatow, Kirillow und Pjotr Werchowenskij so widersprüchlich verhält: er animiert alle zu ihrer jeweils speziellen Besessenheit und ist doch gleichgültig gegenüber dem Ergebnis seiner Anstiftungen, denn dieses Ergebnis ist ihm längst bekannt. Und paradox ist Stawrogins kreativer Nihilismus deshalb, weil das Werk, das er hervorbringt, nur sichtbar wird, um sich vor unseren Augen aufzulösen.
    Pjotr Werchowenskij ist es deshalb, der nachträglich alle Werke, die der Menschheit gehören,

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