Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
widerruft, und dies im Namen der Zukunft: »Einem Cicero wird die Zunge rausgeschnitten, einem Kopernikus werden die Augen ausgestochen, und ein Shakespeare wird gesteinigt […].« Das aber heißt: »Alle sind Sklaven und in der Sklaverei gleich« (Teil II: Kap. 8: Iwan Zarewitsch). So nimmt der Handlungskern der Bösen Geister den Ausgang der Geschichte der Menschheit, d.h. all jener Geschichten der Zukunft vorweg, die einen Pjotr Werchowenskij auf den Plan rufen. In solcher Überzeitlichkeit hat Dostojewskijs Roman seine wirkliche Aktualität, d.h. seinen anagogischen Sinn, der den tropologischen Sinn als Anwendung des Verstandenen auf uns selbst impliziert, aber nicht prominent werden lässt. Im Schema des vierfachen Schriftsinns liegt zwischen dem historischen (= allegorischen ) und überzeitlichen (= anagogischen ) Sinn der moralische (= tropologische ) Sinn als Warnung an den Leser, den »Bösen Geistern« nicht Vorschub zu leisten. Die Sorge Dostojewskijs um die Zukunft Russlands, die der Konzeption seiner fünf großen Romane zugrunde liegt, bedingt jedes Mal die »eschatologische« Ausrichtung der Handlung im Sinne eines christlichen Heilsgeschehens, das allerdings durch die Herrschaft »Böser Geister« verdeckt werden kann. Der von Dostojewskij gestalteten »Eschatologie« entspricht die Deutung seiner fünf Romane nach dem »vierfachen Schriftsinn«.
Auf der Grundlage (dem fundamentum ) des buchstäblichen Sinns der äußeren Handlung mit ihrem psychologischen Realismus erhebt sich das Gebäude (das superaedificatum ) der übertragenen Bedeutung als allegorischer Sinn (die Personen als Repräsentanten der russischen Geschichte), als tropologischer Sinn (die Belehrung des Lesers hier und jetzt) und als anagogischer Sinn (überzeitliche Exemplarik von Personen und Handlung). Das vorangestellte biblische Motto der Bösen Geister (Lukas 8, 32–36) verweist unmittelbar auf die überzeitliche Exemplarik von Personen und Handlung, der politische Handlungskern mit der Ermordung Schatows im Zentrum lässt den allegorischen Sinn, das Schicksal Russlands betreffend, deutlich werden.
Der Roman kann aber auch als willkommenes Musterbeispiel einer spannenden Geschichte und eines äußerst pittoresken Typenarsenals gelesen werden, als Phantasieleistung ohne historische Bodenhaftung. Für Dostojewskij selbst und die Öffentlichkeit, um die es ihm ging, stand der allegorische Sinn, das Schicksal Russlands betreffend, an erster Stelle. Solche Akzentuierung muss aber ein heutiger Leser nicht mitmachen. Wo der Autor sein Handwerk versteht, ist im buchstäblichen Sinn immer die überzeitliche Bedeutung unmittelbar präsent.
Der Roman als zeitgeschichtliches Dokument?
Mit den Bösen Geistern (1871/72), dem dritten Roman innerhalb der Reihe der großen fünf, erreicht Dostojewskijs Diagnose der geistigen Situation seiner Zeit den Tiefpunkt an Hoffnungslosigkeit. Die beklemmenden Visionen eines Goya nehmen hier literarische Gestalt an, und mit der Bosheit eines Swift wird die Hölle der russischen Provinz zelebriert. Massenhysterie, Mord und Selbstmord sind die Wahrzeichen des herrschenden Weltzustands. Es ist die Feuersbrunst des Nihilismus, die hier wütet und nicht zu löschen ist, weil sie in Wahrheit »nicht auf den Dächern«, sondern »in den Köpfen« stattfindet – so formuliert es in einer Krise geistiger Klarsicht der ansonsten vollkommen negativ gezeichnete Gouverneur von Lembke. Wie kein anderes Werk lassen die Bösen Geister das Diktum de Vogüés gerechtfertigt erscheinen, wonach Dostojewskij als der »Shakespeare des Irrenhauses« zu gelten habe.
Und doch geht vom Schreckbild dieser »Besessenen« eine geradezu ungestüme Vitalität aus. Der Blick ins Chaos vermittelt eine durch nichts gedämpfte Lust am Untergang. Das Vordringen ins Herz der Finsternis lässt eine archaische Bejahung des Lebens in all seinen Möglichkeiten frei werden. Es scheint, als wolle sich der Text am liebsten gegen den Strich seiner so deutlich vernehmbaren Botschaft gelesen sehen. Die Vernunft schläft, und die Phantasie gebiert unvergessliche Monstren. Dostojewskij ist auch diesmal ein Meister darin, im Leser verbotene Gefühle freizusetzen. Und das geschieht gleichsam schleichend: aus der ästhetischen Welteinstellung ergibt sich »plötzlich« die Tragödie der inszenierten politischen Aktion als notwendige Folge des Nihilismus. Aus verschiedensten Gründen bieten die Bösen Geister einer angemessenen Deutung nicht
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