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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Revolution von außen ablehnte. Auch ist bekannt, wer die Vorbilder zu Tolkatschenko und Erkel gewesen sind. Gleichzeitig ist aber zutage getreten, dass nicht nur unmittelbares Zeitgeschehen in die Bösen Geister Eingang fand. So lassen sich in der Gestalt Pjotr Werchowenskijs auch Eigenheiten jenes Petraschewskij entdecken, dessen revolutionärer Zirkel Dostojewskij in den vierziger Jahren zum Schicksal wurde. Zudem ist mittlerweile erhärtet worden, dass für Stawrogin die geheimnisvolle und dämonische Persönlichkeit Nikolaj Speschnjows (1825–1855) maßgebend gewesen ist. Speschnjow spielte im Kreis um Petraschewskij eine wichtige Rolle und hat ganz offensichtlich den jungen Dostojewskij stark beeindruckt. Als Ort des Geschehens, der ja im Roman namenlos bleibt (»unsere Stadt«), hat man Twer ermittelt, wobei allerdings auch Eigenheiten aus der Gegend um Staraja Russa erkennbar sind.
    Mit einem Wort: Dostojewskij hat feste Zuordnungen gezielt vermieden. Es ist festzustellen, dass zuweilen Züge verschiedener »realer« Personen an einer einzigen literarischen Person auftreten, andererseits werden Eigenheiten einer bestimmten »realen« Person auf verschiedene »literarische« Personen verteilt. So ist zwar Karmasinow auf Turgenjew ausgerichtet, gleichzeitig aber wird Turgenjews Beziehung zu Pauline Viardot-Garcia in der Beziehung Stepan Werchowenskijs zu Warwara Stawrogina parodiert.
    Die Aufzählung solcher Forschungsergebnisse ließe sich noch beträchtlich fortsetzen. Das Aufspüren der verschiedensten Anstöße, die Dostojewskij aus dem »wirklichen Leben« erhalten hat, ist, wie es scheint, zu einer regelrechten Manie geworden. Selbst Zweifelhaftes findet Gehör, wenn es nur provokativ genug ist. So wurde die These Leonid Grossmans, mit Stawrogin sei Bakunin gemeint, zwar zurückgewiesen, aber dennoch aufwendig diskutiert. In solchem Zusammenhang wird der entlaufene Sträfling »Fedjka Katorschnyj« (= Fjodor, der Zuchthäusler) unversehens zu einer hintersinnigen Selbstdarstellung des Autors Dostojewskij.
    Es ist zu fragen, was mit derartigen philologischen Suchaktionen, auch wo sie nachweislich »Richtiges« ermitteln, für eine Deutung des literarischen Textes gewonnen wird. Führen solche Spurensicherungen nicht eher aus dem Text hinaus als in ihn hinein? Wäre die Gestalt eines Pjotr Werchowenskij weniger »verständlich«, wenn es einen Netschajew niemals gegeben hätte? Oder, anders gefragt: Wird mit einem Karmasinow Turgenjew wirklich »getroffen«?
    Mit anderen Worten: Auch die exaktesten Kenntnisse bezüglich der Herkunft des Materials, das Dostojewskij benutzte, erweisen sich, recht besehen, nur als Anekdoten zur Psychologie des Schaffens. Zwar sind die Bösen Geister mehr als jedes andere Werk Dostojewskijs geprägt von der Lust am tagespolitischen Detail; und so mag es manchem legitim erscheinen, dass die Anlässe für die Gestaltung in die Diskussion des Textes einbezogen werden. Dennoch sind die Bösen Geister kein politischer Traktat, sondern ein Roman: Eine sachgerechte Interpretation kann auch hier niemals durch eine noch so kenntnisreiche Abhandlung der zeitgeschichtlichen Realia ersetzt werden. Auf die poetologische Besinnung kommt es an.
    Erzähltechnik
    Der angemessene Zugang zu den Bösen Geistern wird des Weiteren dadurch erschwert, dass hier ungewöhnlich hohe Anforderungen an die Rezeptionsfähigkeit des Lesers gestellt werden. Nicht nur sind die Inhalte von einer verwirrenden Vielfalt und Mehrschichtigkeit; die Art der Darbietung ist zudem mit der gezielten Unterschlagung aller Übersichtlichkeit ganz und gar darauf angelegt, den Leser zu überwältigen, ihn gleichsam zu überfluten.
    Dostojewskijs Spannungstechnik erreicht hier einen deutlich erkennbaren Gipfel. Die erzähltechnischen Mittel werden mit einer Virtuosität eingesetzt, die bis an die Grenze des Zumutbaren vorstößt. Innerhalb der Geschichte des Romans sind es vor allem Andrej Belyjs Petersburg (1913/14) und William Faulkners Absalom, Absalom! (1936), die in jenem Grenzbereich weitere Radikalisierungen vornehmen, während Dostojewskij in dieser Hinsicht insbesondere die Erzählpraxis des englischen Schauerromans weiterentwickelt hat (man denke an Ann Radcliffe und Charles Maturin), eine Praxis, die in jeweils verschiedener Ausrichtung bereits von E. T. A. Hoffmann und Edgar Allan Poe genutzt worden war. Auch Balzac und Dickens führen hier zu Dostojewskij. Als Experimente mit den Möglichkeiten des Erzählens

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