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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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leblosen Gegenstand, eine ganz alltägliche Tür, die aus einem Wohnhaus in den Garten führt, über Hunderte von Seiten zu einem Bedeutungsträger gemacht, auf dem das gesamte Gebäude des »Justizirrtums« wie auf einem Drehpunkt aufruht. Eine Konstruktionsleistung ersten Ranges. Ja, für den Angeklagten beschwört diese Tür sogar Gott und den Teufel. »Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande«, sagt Goethe. Die Aussage des Dieners Grigorij ist das erste Knopfloch für die adäquate Deutung der Brüder Karamasow .
    Besonderheiten
    Aus den Brüdern Karamasow ist ein kurzer Text regelrecht herausgerutscht, um ein Eigenleben außerhalb des Romans zu führen: die Dichtung vom Großinquisitor , die ins fünfte Kapitel des Fünften Buches eingelagert ist. Iwan Karamasow sitzt mit seinem Bruder Alexej in einem Restaurant und eröffnet ihm, er habe im Geiste eine Dichtung verfasst, die er ihm nun vortragen möchte. Es handelt sich also nicht um etwas Niedergeschriebenes, wir hören eine mündliche Erzählung, die es in anderer Form nicht gibt. Sie ist aber so fest in Iwans Bewusstsein eingelassen, dass er sie »auswendig« weiß. Der Schauplatz ist Sevilla im 16. Jahrhudert. Jesus ist wiedergekehrt, man hat ihn erneut verhaftet und er soll erneut hingerichtet werden. Diesmal auf einem Scheiterhaufen. Der Großinquisitor, ein Greis von neunzig Jahren, hält ihm eine Rede, dass er nur gekommen sei, um zu stören; er wolle den Menschen die Freiheit bringen, der Mensch aber sei nicht dafür geschaffen, frei zu sein. »Morgen werde ich dich verbrennen. Dixi.« Und Aljoscha fragt seinen Bruder, ob denn damit sein Poem zu Ende sei. Iwan antwortet: »Ich wollte es so beenden: als der Inquisitor verstummte, wartete er eine Weile, daß der Gefangene ihm antworte. Ihn bedrückt sein Schweigen. Er hat gesehen, wie der Gefangene ihm die ganze Zeit hingegeben und still zuhörte, den Blick auf seine Augen gerichtet und offenbar ohne die Absicht, ihm zu widersprechen. Der Greis wünscht, daß Er auch nur ein Wort an ihn richte, und sei es noch so bitter, furchtbar. Er aber nähert sich plötzlich dem alten Mann und küßt ihn still auf seine blutleeren neunzigjährigen Lippen. Das ist Seine ganze Antwort. Der Greis erschauert. In seinen Mundwinkeln zuckt es; er geht zur Tür, schließt sie auf und sagt zu Ihm : ›Geh und komme nicht wieder … Komme nie mehr wieder … Niemals, niemals!‹ Und er läßt Ihn hinaus auf die ›dunklen Plätze der Stadt‹. Der Gefangene geht.«
    »Und der Greis?«, fragt Aljoscha. Iwans Antwort lautet: »Der Kuß brennt in seinem Herzen, aber der Greis bleibt bei seiner Idee.«
    Über Iwan Karamasows Großinquisitor und seine Einbettung in den Dialog Iwans mit seinem Bruder Alexej sind mehrere Bücher und zahlreiche Abhandlungen geschrieben worden. [126]   Iwans Poem führt längst eine separate Existenz außerhalb des Romans, in ganz verschiedenen Kontexten. Iwan will ja den Großinquisitor rechtfertigen und glaubt, dass ihm das gelungen sei. Alexej aber sieht im Poem seines Bruders ein Loblied auf Jesus und die Widerlegung des Großinquisitors durch Schweigen.
    Innerhalb des Romans, wo Iwans Dichtung ihren rechtmäßigen Ort hat, liefert der Text eine Veranschaulichung der Wandlung Iwans vom Atheisten zum gläubigen Christen. Denn am Ende des Romans, nach der Verurteilung Dmitrijs, wird Iwan seinen Großinquisitor so lesen wie Alexej: als Loblied auf Jesus.
    Außerhalb des Romans enthebt sich der Text dem innerfiktionalen Kontext, wird, auf der höchsten Abstraktionsebene, ein Beispiel dafür, dass sich eine Institution, welche auch immer, die die Jahrhunderte überdauert hat, als »totes Gehäuse« (im Sinne von Karl Jaspers) erweisen kann, das seinen Gründer ächten oder hinrichten würde, wenn er wiederkehren könnte. Aus keinem anderen Werk Dostojewskijs hat sich eine eingeschobene Erzählung derart abgelöst und verselbständigt wie der Großinquisitor aus den Brüdern Karamasow , nicht einmal Akulkas Mann aus dem Toten Haus . Vorab gelesen, wäre der Großinquisitor , der inzwischen längst auch als Reclam-Heft vorliegt, zweifellos eine empfehlenswerte Einführung in die Brüder Karamasow . Abgesehen davon wimmelt dieser Roman geradezu von verschiedensten Textsorten.
    Wie Wladimir Sacharow gezeigt hat, arbeitet Dostojewskij in den Brüdern Karamasow mit allen nur denkbaren literarischen Gattungen. [127]   Ja, der Roman ist eine regelrechte Enzyklopädie

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