Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
murmelte Mitja und starrte den Staatsanwalt wortlos an; kraftlos sank er wieder auf seinen Stuhl zurück. Alle schwiegen. ›Ja, die Tür …! Das ist ein Phantom ( Da, dver’! Eto fantom ). Gott ist gegen mich!‹ rief er und starrte völlig gedankenverloren vor sich hin.‹« [118]
Dieses erste Verhör Dmitrijs, das sich über sechs Kapitel des Neunten Buchs erstreckt, findet noch in Mokroje statt, wo man ihn in den frühen Morgenstunden festnahm. Die böse Beweiskraft der unerklärlichen Aussage Grigorijs bestimmt zunächst auch das Verhalten Iwans gegenüber Dmitrij. Als Iwan seinen Bruder im Untersuchungsgefängnis besucht, heißt es von Dmitrij: »Über Grigorijs Aussage von der offenen Tür lachte er nur verächtlich und versicherte, ›der Teufel habe sie aufgemacht‹. Doch eine folgerichtige Erklärung für diese Tatsache konnte er nicht geben.« [119]
Diese folgerichtige Erklärung erhält der Leser in jenem Gespräch zwischen Iwan Karamasow und Smerdjakow, das wir soeben bereits in den Blick gerückt haben. In jenem Gespräch erfahren wir den Hergang der Tat aus der Sicht des tatsächlichen Mörders. Smerdjakow erzählt Iwan, wie er in jener Nacht, als er die Unruhe im Garten bemerkte, aufstand und zu Fjodor Karamasow ging, der ihm am offenen Fenster mitteilte, dass Dmitrij da gewesen und entflohen sei und Grigorij niedergeschlagen habe. Smerdjakow beschließt sofort, die Situation zu nutzen und Fjodor Karamasow umzubringen. Er sagt dem Alten, Gruschenka sei gekommen. Fjodor Karamasow will es zunächst nicht glauben. Doch Smerdjakow beteuert: »Dort steht sie, öffnen Sie ihr!« und macht zusätzlich das verabredete Klopfzeichen. Der alte Karamasow schließt die Tür auf, die in den Garten führt. Smerdjakow sagt plötzlich, Gruschenka stehe unterm Fenster. Fjodor Karamasow geht mit Smerdjakow ins Zimmer zurück ans Fenster und blickt nun gemeinsam mit ihm in den dunklen Garten. Smerdjakow ergreift einen gusseisernen Briefbeschwerer und schlägt Fjodor Karamasow den Schädel ein. [120]
Als Smerdjakow all dies erzählt, stellt Iwan nach einigem Nachdenken – wir sagten es schon – die Frage: »Wenn er nur dir die Tür öffnete, wie konnte Grigorij sie dann früher offen sehen als du?« Smerdjakow antwortet darauf: »Was die Tür betrifft und daß Grigorij Wassiljewitsch sie offen gesehen haben will, so ist ihm das nur so vorgekommen […]. Denn ich kann Ihnen sagen, das ist ja gar kein Mensch, sondern ein störrischer Wallach, und gesehen hat er das gar nicht, es schien ihm nur so, als sähe er es […]. Es ist schon ein Glücksfall für uns beide, dass er sich so etwas einfallen ließ, denn das wird Dmitrij Fjodorowitsch unweigerlich den Hals brechen.« [121]
Keine zwei Stunden nach diesem Geständnis, in der Nacht vor der Gerichtsverhandlung, erhängt sich Smerdjakow im vollen Wissen um die Folge seines Tuns. Als sich der völlig verstörte Iwan vor Gericht auf den toten Zeugen beruft, glaubt man ihm nicht.
Bereits im ersten jener drei Gespräche, als Smerdjakow noch gegenüber Iwan die Überzeugung heuchelt, dass Dmitrij der Mörder sei, kommt Smerdjakow auf die offene Tür zu sprechen. Iwan sagt: »Mein Bruder beschuldigt dich geradeheraus, daß du den Mord begangen und das Geld gestohlen hast.« Smerdjakow antwortet: »Was bleibt ihm auch anderes übrig? […] Doch wer wird ihm nach all dem, was gegen ihn vorliegt, noch glauben? Grigorij Wassiljewitsch hat die Tür offen gesehen, dagegen kann man nichts machen.« [122]
Der Versuch des Verteidigers, die Aussage Grigorijs auf den Genuss eines deftigen Heiltrunks zurückzuführen, kann die diabolische Beweiskraft der offen gesehenen Tür nicht zerstören. [123]
In der Rede des Staatsanwalts zeigt sich erneut die entscheidende Bedeutung dieser Einzelheit. Der Staatsanwalt rekapituliert das Verhalten Dmitrijs während der Festnahme am frühen Morgen nach der Mordnacht. Es heißt: »In diesen Fällen ist das allererste, ist es die wichtigste Aufgabe der Untersuchung, keine Zeit zur Vorbereitung zu lassen, unerwartet anzugreifen, damit der Verbrecher seine geheimsten Gedanken in all ihrer verräterischen Einfalt, Unwahrscheinlichkeit und mit allen Widersprüchen äußern kann. Einen Verbrecher kann man nur zum Sprechen bringen, wenn man ihm unversehens und gleichsam zufällig irgendeine neue Tatsache mitteilt, irgendeinen Umstand des Falles, der in seiner Bedeutung gewaltig ist, den er aber bislang ganz und gar nicht
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