Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
der gängigen Erzählformen. Dostojewskij vermerkt in einem Brief an seinen Herausgeber Michail Katkow vom 12. Dezember 1879: »Meinen Roman Die Brüder Karamasow schreibe ich in Büchern .« [128] Und das habe, so Sacharow, weil die Unterteilung eines Romans in »Bücher« vorher nicht vorkomme, eine besondere Bedeutung. Jedes »Buch« der Brüder Karamasow repräsentiere eine literarische Gattung. Und Sacharow zählt auf: Familienroman (Erstes Buch: »Die Geschichte einer Familie«), sozialpsychologischer Roman (Zweites Buch: »Eine unziemliche Versammlung« und Viertes Buch: »Nadryv«), erotischer Roman (Drittes Buch: »Die Lüstlinge«), philosophischer Roman (Fünftes Buch: »Pro und Kontra« und Sechstes Buch: »Der russische Mönch«), [129] christlicher Roman (Siebentes Buch »Aljoscha«), Kriminalroman (Achtes Buch: »Mitja«), Detektivroman (Neuntes Buch: »Die Voruntersuchung«), Entwicklungsroman (Zehntes Buch: »Die Jungen«), mystischer Roman (Elftes Buch: »Der Bruder Iwan Fjodorowitsch«), Gerichtsroman (Zwölftes Buch: »Ein Justizirrtum«). Innerhalb dieser leitenden Gattungen nutzt Dostojewskij zahlreiche kleine literarische und nichtliterarische Gattungen wie etwa die Anekdote oder die Bildrezension, und das stets mit erkennbarer Freude an der Vielfalt schriftlicher und mündlicher Ausdrucksformen, die alle in ihr Recht gesetzt werden. Als »Roman der Romane« sind die Brüder Karamasow eine Synthese der verschiedensten Erzählformen. Diese Synthese durchziehe aber wie ein roter Faden ein »christlicher Metaroman«, der sich aus all jenen Episoden konstituiere, die von der Stellung der Kirche in Gesellschaft und Staat, vom Verhältnis des Menschen zu Gott und allem, was damit zusammenhängt, handeln. Dieser »christliche Metaroman« komme am Ganzen des »Romans der Romane« zum Ausdruck. So weit die aufschlussreiche, überraschende und sofort einleuchtende Entdeckung Wladimir Sacharows, der sich auch als Herausgeber der noch laufenden Gesamtausgabe der Werke Dostojewskisj in der alten Orthographie einen Namen gemacht hat, in der »Gott« wieder großgeschrieben wird, was durch die Rechtschreibreform unter Lenin von 1918 abgeschafft worden war. [130]
Den Überlegungen Wladimir Sacharows bleibt allerdings hinzuzufügen, dass Dostojewskij mit dem Schicksal Dmitrij Karamasows, das die Hauptlinie der Handlung trägt, sein kriminologisches Interesse genauso prominent werden lässt wie sein missionarisches Christentum. Kriminologie und Christentum sind dem großen Zusammenhang des »Metaromans« gleichwertig eingeschrieben. Für Dostojewskij bedingen sie einander als die maßgebenden Perspektiven eines Menschenbildes, das im Leben eines großen Sünders sein Zentrum hat.
Der Spieler
Wer in einer beliebigen Gesprächsrunde auf Dostojewskijs Roman Der Spieler zu sprechen kommt, muss damit rechnen, dass irgendjemand unaufgefordert einwirft: »Den hat er ja in sechsundzwanzig Tagen geschrieben.« Fakt ist, dass Dostojewskij diesen Text im Oktober 1866 zwar seiner Stenographin Anna Snitkina, die er knapp vier Monate später heiratet, in sechsundzwanzig Tagen diktiert hat, sich aber seit 1863 intensiv mit dem Plan dieser Arbeit beschäftigt hat, was durch seinen Brief aus Rom an Nikolaj Strachow vom 18. September 1863 ausführlich belegt wird. Dostojewskij schreibt darin, das »Sujet der Erzählung« sei ein Typ des Russen im Ausland, der ihm bereits lebendig vor Augen stehe: ein Spieler – der aber kein simpler Spieler sei, so wie Puschkins geiziger Ritter kein simpler Geiziger sei. Wenn sein Totes Haus , so fügt Dostojewskij hinzu, die Aufmerksamkeit des Publikums als eine Darstellung von Zuchthäuslern auf sich gezogen habe, wie es sie vor dem Toten Haus so anschaulich nicht gegeben habe, so werde diese Geschichte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil sie so greifbar anschaulich das Roulettespiel darstelle.
Halten wir also die Einsicht Baudelaires parat, wer schnell schreiben will, muss viel nachgedacht haben. Und das hat unser Meister aus Russland tatsächlich. Dennoch haftet ihm die Meinung an, unter finanziellem Druck oft zu schnell gearbeitet zu haben.
Ist das aber dem Text anzusehen? Zweifellos nicht. Ganz im Gegenteil ist der Text bis ins letzte Detail durchgearbeitet. Von Unaufmerksamkeiten keine Spur. Dostojewskij wählt allerdings einen Ich-Erzähler, der den Eindruck unkontrollierten schnellen Schreibens erweckt. Das aber ist ein Stilmittel, das er bereits in den
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