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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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vermutet hat und keineswegs in Betracht ziehen konnte. Diese Tatsache hatten wir schon bereit, oh, schon lange bereit: es war die Aussage des wieder zur Besinnung gekommenen Dieners Grigorij über die offene Tür, durch die der Angeklagte herausgekommen ist. Diese Tür hatte er gänzlich vergessen, und daß Grigorij sie sehen konnte, auf diesen Gedanken war er gar nicht gekommen. Die Wirkung war gewaltig. Er sprang auf und schrie plötzlich: ›Smerdjakow hat den Mord begangen, Smerdjakow!‹«
    Es sei nachdrücklich hervorgehoben, dass auch der Verteidiger von der Schuld Dmitrijs überzeugt ist und sein Plädoyer nur wie ein exercitium logicum durchführt. Kennzeichnend ist die Art, wie er das verhängnisvolle Detail in seinem Plädoyer behandelt. Er sagt: »Was die offene Tür betrifft, meine Herren Geschworenen, sehen Sie, diese geöffnete Tür wird nur von einer einzigen Person bezeugt, die zu der Zeit jedoch selbst in einem Zustand war, daß … Die Tür mag offen gewesen sein, der Angeklagte mag sie geöffnet haben, er mag aus dem Gefühl des Selbstschutzes, das in seiner Lage so verständlich ist, gelogen haben, er mag ins Haus eingedrungen, im Hause gewesen sein, – nun, was folgt daraus, warum muß er, wenn er auch im Hause war, unbedingt auch den Mord begangen haben?« [124]  
    Auch der Verteidiger kann sich also der Beweiskraft, die Grigorijs Aussage ausstrahlt, nicht entziehen. Er gerät bei der Erwähnung der entscheidenden Einzelheit regelrecht ins Stolpern und versucht, Grigorijs Aussage schließlich als eine Wahrheit hinzustellen, die nichts besage.
    Eine verbindliche psychologische Erklärung für den Irrtum Grigorijs wird uns nicht gegeben. Es bleibt offen, ob es sich hier um eine Sinnestäuschung oder um eine Erinnerungstäuschung handelt. Der kurz zuvor genossene Heiltrunk, der Salbei, Wegerich, Pfeffer und Spiritus (!) enthielt, [125]   und die im Ausruf »Vatermörder!« sich zeigende Erwartungsintention, die alle Umstände im Vorhof des Mitwahrgenommenen auf die Plausibilität des zentral Erschauten ausrichten mochte, sprechen für eine Sinnestäuschung.
    Andererseits mögen die durch Dmitrijs Schlag herbeigeführte Ohnmacht, der Blutverlust und die hierdurch bestätigte Brutalität des Verdächtigten bewirkt haben, dass sich ein zusätzliches, die erlangte Überzeugung stützendes Detail nachträglich ins Erinnerte einschlich.
    Zweifellos ist Grigorij von der Schuld Dmitrijs felsenfest überzeugt, da er ja drei Tage vor seiner ersten Vernehmung einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen Dmitrij und Fjodor Karamasow beiwohnte. Zu vieles lässt vermuten, dass Grigorij recht gesehen hat. Sein Irrtum kann also rein psychologisch nicht als solcher entlarvt werden.
    Aufklärung darüber, wie es wirklich gewesen ist, können nur zwei Menschen geben: Dmitrij und Smerdjakow. Dmitrijs Widerlegung bleibt gegen das Wort des biederen und rechtschaffenen Grigorij bloße Beteuerung. Smerdjakow ist tot, so dass die Wahrheit nur über die Vermittlung Iwans erreichbar bleibt. Iwans plötzlicher Versuch, seinen Bruder zu retten, bleibt für das Gericht zwangsläufig suspekt. Dass Iwans deutlich erkennbarer Fieberzustand nicht dazu angetan ist, seiner Aussage Gewicht zu verleihen, gibt jedoch dem Verhängnis, das über Dmitrij hereinbricht, nur eine zusätzliche Beschleunigung. Entscheidend ist die Niedertracht Smerdjakows, der die Tat bewusst in der Rolle Dmitrijs ausgeführt hat, so dass sein Geständnis, da es ja nur von Iwan bezeugt wird, wie eine raffinierte Konstruktion Iwans klingen muss. Insofern würde die längst durch Grigorijs Aussage gesicherte Meinung des Gerichts über Dmitrij auch dann sich nicht ändern können, wenn Iwan in der Lage wäre, das Geständnis Smerdjakows so sachlich vorzutragen, wie es der Chronist aufgrund späterer Befragung für uns, die Leser, nachgeholt hat.
    Wie jeder weiß, liefert Grigorijs Aussage nicht das einzige Indiz für die Schuld Dmitrijs. Die offene Tür ist jedoch das Signal, auf das hin alle anderen Umstände regelrecht einklicken und jenen Zirkel schaffen, aus dem es für Dmitrij kein Entrinnen gibt. Mit einem Wort: Grigorijs Aussage bedingt Dmitrijs Verurteilung.
    Mit den Brüdern Karamasow sind Dostojewskij zwei Dinge gelungen, die ihresgleichen suchen. Er hat eine Leerzeile zur wichtigsten Zeile des gesamten Romans werden lassen, mit der im Kapitel »Im Dunkeln« (Buch VIII) der tatsächliche Vollzug des Verbrechens ausgespart wird. Und er hat einen

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