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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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zur Popularität des Kurzromans Der Spieler wesentlich beigetragen. Immer wieder werden Leser von solchen »Geschichten« geradezu magisch angezogen und fühlen sich bei ihrer Lektüre ganz auf den Spuren des Autors. Der biographische Hintergrund aber gehört zur Schaffenspsychologie und hat mit Poetologie nichts tun. Poetologisch ist ausschließlich das Kunstergebnis von Belang, die Art und Weise, wie die zu gestaltende Sache ins Werk gesetzt wurde, so dass sie allein aus dem Werk entnommen werden kann. Dostojewskij selbst hat dies in einem Aufsatz aus dem Jahre 1861 folgendermaßen formuliert: »Das Können des Künstlers, beispielsweise eines Romanciers, besteht darin, in den Personen und Bildern eines Romans seinen Gedanken so klar auszudrücken, dass der Leser, wenn er den Roman liest, den Gedanken des Autors genauso versteht, wie ihn der Autor verstand, als er sein Werk schuf.« [144]  
    Die Gegenwartshandlung des Spielers erstreckt sich über nur wenige Tage eines Zeitraums von knapp zwei Jahren. Nach dem zwölften Kapitel findet, was die Niederschrift der chronologisch berichteten Ereignisse anbelangt, ein Zeitsprung von einem Monat statt. Der Ich-Erzähler überlegt, als er wieder zu schreiben beginnt: »Habe ich etwa damals den Verstand verloren und die ganze Zeit irgendwo in einem Irrenhaus gesessen, in dem ich vielleicht immer noch sitze, so dass mir all das nur so schien und bis heute nur so scheint  …« [145]   Ein abgründiger Gedanke. Der Erzähler wird von der Turbulenz und Phantastik seiner Erlebnisse wie von einem »Wirbelsturm« in einen »Strudel« gezogen und beunruhigt, sucht Ruhe durch Niederschrift in einer langweiligen deutschen Kleinstadt, die ungenannt bleibt. Dieser Anfang des dreizehnten Kapitels enthält die zentrale Passage der Selbstreflexion des Erzählers, der sich dem »chaotischen Traum« seiner Erlebnisse des letzten Monats dadurch stellt, dass er »wieder zur Feder« greift und dabei den französischen Trivialschriftsteller Paul de Kock, den er nicht ausstehen kann, in deutscher Übersetzung liest, um nicht durch eine ernsthafte Lektüre die Präsenz des Erlebten zu gefährden, so dass sich der chaotische Traum in Rauch auflösen würde. Nach dem fünfzehnten Kapitel vergehen drei Wochen, bis sich der Erzähler wieder ans Schreiben macht und über seine Zeit in Paris berichtet. Und als das allerletzte, siebzehnte Kapitel beginnt, sind inzwischen wieder genau ein Jahr und acht Monate vergangen.
    Man sieht, Dostojewskij dramatisiert die Zeitebene der Niederschrift seines Erzählers und will, dass der Leser dies realisiert. Dieser Erzähler will sich selber über das, was mit ihm passiert ist, »präzise Rechenschaft« ablegen, wird aber immer wieder von den Ereignissen eingeholt, so dass er jeweils zunächst nicht zum Schreiben kommt. Kurzum: Dostojewskij nutzt die zeitliche Struktur seines Romans zur Charakteristik seines Ich-Erzählers, was er vorher nur noch in den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch gemacht hat, wo der erste Teil nur verständlich wird, wenn man ihn als ausgelöst von dem zentralen Ereignis des zweiten Teils auffasst, das den Ich-Erzähler aus seiner Vergangenheit hier und jetzt »bei nassem Schnee« heimsucht.
    Der Ich-Erzähler des Spielers ist anfangs Hauslehrer in der Familie eines russischen verwitweten Generals im Ruhestand, der, völlig verschuldet, auf den Tod seiner Erbtante wartet, um sich durch den erhofften Reichtum die Hand der Mademoiselle Blanche, einer zwielichtigen Französin, zu sichern. Die Stieftochter des Generals, Polina, wird vom Erzähler angebetet. Die Anzeichen lassen jedoch vermuten, dass Polina längst dem minderwertigen »Marquis« des Grieux ins Garn gegangen ist.
    Die Erbtante, mit ihren fünfundsiebzig Jahren eine unverwüstliche und europafeindliche Russin, taucht unversehens auf, verspielt im Casino ihr ganzes Geld (noch mehr als das, was sie gewonnen hatte) und kehrt wieder nach Russland zurück. Nachdem sie zunächst im allgemeinen Gerede »wie ein Gespenst« (Urs Heftrich) umgeht, ist ihr höchst lebendiges Auftreten genau in der Mitte des Romans ein Knalleffekt erster Güte. [146]   Die finanzielle Lage Polinas und ihres Stiefvaters wird jetzt plötzlich aussichtslos.
    Ganz im Banne seiner Angebeteten geht der Erzähler ins Casino und gewinnt einhunderttausend Florin. Die Art seines Auftretens stößt jedoch Polina ab, und der Spieler begibt sich mit Mademoiselle Blanche nach Paris, wo er seinen Gewinn verprasst.

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