Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch praktiziert hat. Solch ein Erzählton gehört zum Feuilletonisten, der ohne literarische Prätentionen über verschiedenste Themen berichtet, wie das Dostojewskij selbst ja auch in seinen Zeitschriftenartikeln immer wieder getan hat. Man denke etwa an seinen Artikel von 1861 aus der »Zeit« (Vremja) mit dem Titel Petersburger Träumereien in Vers und Prosa . Später, 1874 im Grünen Jungen , wird er einen ganzen Roman in solchem Erzählton präsentieren.
Werfen wir nun einen Blick auf die Handlung des Spielers , der übrigens das einzige Werk Dostojewskijs ist, das nicht zuerst in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde, sondern 1866 sofort als Einzelausgabe erschien sowie gleichzeitig, mit noch anderen Werken des Autors, im dritten Band der Gesamtausgabe. Beide Mal ist Fjodor T. Stellowskij der Verleger, der Dostojewskij dazu überredet hat, den ursprünglichen Titel, Roulettenburg , fallenzulassen und dem Werk »für das Publikum« einen »mehr russischen« Titel zu geben. Dostojewskij willigte ein. Der Ortsname im Text aber bleibt. Thomas Mann nennt den Spieler einen »wundervollen Roman«, der »in einem deutschen Kurort mit dem unwahrscheinlichen und geschmacklosen Namen Roulettenburg« die »Psychologie der Leidenschaft nebst der des Dämons Zufall mit unerhörter Wahrheit bloßlegt« ( Dostojewski – mit Maßen, 1946). [143] Mit seinem Kunstwort aber wollte Dostojewskij offensichtlich die künstliche Existenzform der Spieler im Spielcasino kenntlich machen.
Worum geht es? Erzähler und Hauptperson ist ein junger Mann Mitte zwanzig, der in tagebuchartigen Aufzeichnungen seine Erlebnisse festhält, um sie innerlich zu verarbeiten und sich dadurch von ihnen zu befreien, was ihm, so müssen wir schließen, nicht gelingt. Der Roman endet mit dem Satz: »Morgen, morgen wird alles ein Ende haben.« Und der Leser darf sich über die möglichen Problemlösungen den Kopf zerbrechen. Ein Roman ohne Epilog, könnte man denken. Er hat aber seinen Epilog im letzten Kapitel, in denen Mister Astley dem Erzähler, und damit uns, den Lesern, Auskünfte über den Verbleib Polinas wie auch über dem Tod des Generals gibt – so, wie Dostojewskij seinen Erzähler mit dem ersten Kapitel eine gekonnte Einführung in die laufenden Ereignisse geben lässt. Erzähltechnisch beide Male virtuos.
Die Geschichte ist aber mit dem Epilog in Bad Homburg noch gar nicht zu Ende, ja sie geht noch weiter über das Ende des Romans hinaus. Von den sieben Wirkungsfaktoren, die die fünf großen Romane Dostojewskijs kennzeichnen werden, bleiben hier das Verbrechen und die Religion noch ganz im Hintergrund, ohne jedoch zu fehlen. Das Verbrechen ist allerdings nur in der kurz aufflackernden Wunschvorstellung des Ich-Erzählers da, die von ihm in Hassliebe verehrte Polina zu verprügeln, ja sie zu »erwürgen«. Und die Religion steht, ebenfalls nur eine Wunschvorstellung, als »Auferstehung« des Erzählers aus der Hölle der Spielsucht am Horizont. Politisch ist die Abwertung Westeuropas. Für Komik sorgen der deutsche Baron und das Ideal des deutschen »Vaters«. Eine ausgeklügelte Erzähltechnik setzt die Zeitebenen von Niederschrift, Gegenwartshandlung und Vorgeschichte der handelnden Personen spannungsträchtig miteinander in Beziehung. Was aber zum dominierenden Thema wird, das ist die Besessenheit vom Roulette, die den Erzähler wie eine Krankheit heimsucht.
Dostojewskij hatte diese Krankheit an sich selber erfahren, sie aber, im Unterschied zu seinem Erzähler, überwunden. Selbsterlebtes findet auch in der Gestalt der Polina einen künstlerischen Ausdruck. Dostojewskij verarbeitet hier Details seiner Liebesbeziehung zu Apollinaria Suslowa, die er bereits seit 1861 kannte. Sie lebte von 1840 bis 1918, war selber eine emanzipatorisch orientierte Schriftstellerin und hatte Vorlesungen an der Universität in Petersburg besucht. Mit Dostojewskij reiste sie durch Frankreich, die Schweiz, Italien und Deutschland. Als sie im Sommer 1863 in Paris auf ihn wartete, betrog sie ihn mit einem spanischen Medizinstudenten, der sich bald zurückzog. Sie aber setzte auch danach ihre Beziehung zu Dostojewskij durchaus fort, nun aber wie »Bruder und Schwester«, und das bis 1865. 1880 heiratete sie den russischen Schriftsteller, Kulturphilosophen und Dostojewskij-Forscher Wassilij Rosanow (1856–1919), der sechzehn Jahre jünger war als sie. Entsprechendes anekdotisches Wissen von Dostojewskijs Leben hat gewiss
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