Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Das letzte Kapitel zeigt ihn, nach Deutschland zurückgekehrt, in unwürdigen Lebensverhältnissen. Die Erbtante und der General sind verstorben, und der Spieler missachtet in Bad Homburg das eindringliche Angebot Mister Astleys, zu Polina zurückzukehren. Der Roman endet mit der rauschhaften Flucht seiner Titelfigur ins Spielfieber als Asyl vor der unbewältigten Wirklichkeit.
In keinem anderen Werk Dostojewskijs wird so häufig und so unverhohlen über Geld gesprochen wie im Spieler . Das liegt daran, dass es in Roulettenburg gar kein anderes Thema gibt. Was ist ein Spielcasino anderes als ein direkter und öffentlicher Zugang zu Glanz und Elend des Kapitals. Auf einen Schlag reich werden – mit dieser Möglichkeit ständig vor Augen spielen die Spieler im Spielcasino Roulettenburgs. Der Wucherzins einer hässlichen alten Pfandleiherin lässt Raskolnikow zum programmatischen Raubmörder werden, Arkadij Dolgorukij will reich sein wie Rothschild, in den Brüdern Karamasow geht es zentral um eine Handvoll Rubel, im Kaminfeuer Nastasja Filippownas sollten hunderttausend Rubel in Flammen aufgehen, und wenn in den Bösen Geistern Stepan Trofimowitsch kurz vor seinem Tod seine letzten 40 Rubel einer frommen Bibelverkäuferin schenkt, durchbricht er damit den allseits erwiesenen materiellen Egoismus seines Milieus. Im Toten Haus kursiert Geld als »geprägte Freiheit«. Heinrich Böll meint, Geld spiele bei Dostojewskij »fast die Rolle wie Moby Dick, der weiße Wal, bei Melville: Dostojewskij und fast alle seine Gestalten sind immer dahinter her und haben es nie.« [147] Nirgends aber, das ist nun hinzuzufügen, tritt das Geld als greifbare Materie so nackt vor Augen wie im Spieler . Dostojewskij hat hier das Geld in all seinen mittelbaren und unmittelbaren Erscheinungsformen anschaulich werden lassen.
Lassen wir in dieser Sache einen prominenten Soziologen des 19. Jahrhunderts ein Wort sagen: »Was durch das Geld für mich ist, was ich zahlen kann, d.h. was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt. Ich bin häßlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht häßlich, denn die Wirkung der Häßlichkeit, ihre abschreckende Kraft ist durch das Geld vernichtet. Ich – meiner Individualität nach – bin lahm, aber das Geld verschafft mir 24 Füße; ich bin also nicht lahm; ich bin ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer. Das Geld ist das höchste Gut, also ist sein Besitzer gut, das Geld überhebt mich überdem der Mühe, unehrlich zu sein; ich werde also als ehrlich präsumiert; ich bin geistlos, aber das Geld ist der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein? Zudem kann er sich die geistreichen Leute kaufen, und wer die Macht über die Geistreichen hat, ist der nicht geistreicher als der Geistreiche? Ich, der durch das Geld alles, wonach ein menschliches Herz sich sehnt, vermag, besitze ich nicht alle menschlichen Vermögen? Verwandelt also mein Geld nicht alle meine Unvermögen in ihr Gegenteil?«
Daraus ist zu folgern: »Wenn das Geld das Band ist, das mich an das menschliche Leben, das mir die Gesellschaft, das mich mit der Natur und den Menschen verbindet, ist das Geld nicht das Band aller Bande ? Kann es nicht alle Bande lösen und binden? Ist es darum nicht auch das allgemeine Scheidungsmittel ? Es ist die wahre Scheidemünze, wie das wahre Bindungsmittel, die chemische Kraft der Gesellschaft.« [148]
Der Autor heißt Karl Marx (1818–1883), und was er hier in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 sagt, ist seine Auslegung eines Mephisto-Zitats aus Goethes Faust (Erster Teil, 4. Szene: Studierzimmer, Zeile 1824–27). Mephistos zentraler Kernspruch lautet:
Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,
Sind ihre Kräfte nicht die meine?
Ich renne zu und bin ein rechter Mann,
Als hätt’ ich vierundzwanzig Beine.
Die hier zitierte Auslegung hat allerdings sofort eine marxistische Pointe erhalten.
In solche Koordinaten die Haltungen der Personen des Spielers zum Geld einzuzeichnen liegt trotzdem nahe und fällt auch psychologisch nicht schwer. Allerdings wird damit deutlich, dass die Spielsucht des
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