Double Cross. Falsches Spiel
Möglichkeit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Mit seiner Hilfe konnte er die falschen Informationen bestätigen, die er Canaris durch das Double-Cross-System zukommen ließ, und gleichzeitig Mißtrauen unter den beiden rivalisierenden deutschen Nachrichtendiensten säen. Dem MI5
war daran gelegen, daß Canaris im Amt blieb - immerhin hatte man seine Agentenringe in Großbritannien ausgehoben und für britische Zwecke eingespannt -, aber auch kleine Palastintrigen waren nützlich. Der britische Geheimdienst konnte vorsichtig Öl ins Feuer der Zwietracht und des Verrates gießen. Boothby begann, Schellenberg durch Pelikan mit Informationen zu füttern, die Zweifel an Canaris' Loyalität weckten - nicht genug, um den alten Fuchs ans Messer zu liefern, aber doch soviel, daß Schellenberg das Messer bereits wetzte.
1942 merkte Boothby, daß die Sache außer Kontrolle geriet.
Schellenberg hatte einen lange Liste mit Canaris' Verfehlungen zusammengestellt und Himmler vorgelegt. Das Double-Cross-Komitee beschloß, dem Abwehr-Chef rasch ein oder zwei Knochen hinzuwerfen, um die Schlinge um seinen Hals zu lockern. Und es klappte. Himmler ließ Schellenbergs Akte in der Schublade verschwinden, und der alte Fuchs blieb im Amt.
Boothby goß sic h eine zweite Tasse von dem abscheulichen Kaffee ein. Vicary hatte nicht einmal seine erste austrinken können. Er stellte sie, noch halbvoll, aufs Fensterbrett neben eine tote Motte, die langsam zu Staub zerfiel. Der böige Wind hatte die kleinen Jungs aus der Gasse vertrieben und Regentropfen peitschten gegen die Scheibe. Im Haus war nach den morgendlichen Aktivitäten wieder Ruhe eingekehrt. Nur das Knarren des Fußbodens unter Boothbys rastlosen Schritten war zu hören. Vicary wandte sich vom Fenster ab und betrachtete ihn. Er wirkte im Dämmer dieser schäbigen Wohnung deplaziert wie ein Priester in einem Bordell -, doch er schien sich sehr wohl zu fühlen. Selbst Spione geben manchmal gerne Geheimnisse preis.
Boothby faßte in die Brusttasche seines Anzugs, zog ein einzelnes Blatt Papier heraus und gab es Vicary. Es war der Bericht, den er vor Wochen geschrieben und in dem er Boothby gebeten hatte, Sicherheitsalarm auszulösen. Vicary betrachtete die linke obere Ecke - dort prangte der Stempel ›erledigt‹. Und daneben waren kaum leserlich die Initialen BB hingekritzelt.
Boothby streckte die Hand aus und nahm das Blatt wieder an sich. Dann gab er es Pelikan.
Zum ersten Mal rührte sich Pelikan. Er legte das Blatt auf den Tisch und schaltete das Licht an. Vicary, der neben ihm stand, konnte sehen, wie seine Augen hinter den dunklen Gläsern angestrengt blinzelten. Pelikan zog eine deutsche Mikrokamera aus der Tasche - dieselbe, die ihm Schellenberg 1940 gegeben hatte. Er machte gewissenhaft wie ein Profi zehn Fotos von dem Dokument, wobei er die Lampe jedesmal neu einstellte und den Winkel der Kamera leicht veränderte, um zu gewährleisten, daß er zumindest ein brauchbares Negativ erhielt. Schließlich hob er die Kamera und richtete sie auf Hawke. Die Kamera klickte zweimal, dann schob er sie in seine Tasche zurück.
»Pelikan fliegt heute nacht nach Lissabon«, sagte Boothby.
»Schellenberg und Konsorten haben um ein Treffen mit ihm gebeten. Wir glauben, daß sie ihn gründlich ausquetschen wollen. Vor der Befragung wird ihnen Pelikan diesen Film geben. Wenn Schellenberg das nächste Mal mit Canaris im Tiergarten ausreitet, wird er ihm davon erzählen. Canaris und Vogel werden darin den Beweis sehen, daß Kesselpauke Gold wert ist. Ihre Agentin ist nicht enttarnt worden. Im britischen Geheimdienst herrscht Panik. Deshalb müssen die Informationen, die sie über Operation Mulberry schickt, zutreffend sein. Haben Sie es jetzt begriffen, Alfred?«
Vicary und Boothby brachen als erste auf. Boothby ging voran, Vicary folgte ihm. Der Abstieg auf der dunklen Treppe war schwieriger als der Aufstieg. Zweimal mußte sich Vicary an Boothbys weichem Kaschmirmantel festhalten. Sie kamen an der Katze vorbei, die sie wieder aus einer Ecke anfauchte. Die üblen Gerüche waren dieselben, nur die Reihenfolge war diesmal umgekehrt. Sie erreichten den Fuß der Treppe. Vicary spürte das abgetretene Linoleum unter seinen Schuhsohlen.
Boothby stieß die Tür auf, und Vicary trat hinter ihm ins Freie.
Regen klatschte ihm ins Gesicht.
Er war noch nie in seinem Leben so froh gewesen, irgendwo wegzukommen. Auf dem Weg zum Wagen sah er Boothby an, der wiederum ihn ansah. Vicary
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