Double Cross. Falsches Spiel
während ihrer panischen Flucht zu lange unter Adrenalin gestanden und war völlig erschöpft. Das sanfte Schaukeln des Lieferwagens wiegte sie in einen leichten Halbschlaf.
»Vogel hat mir nie Ihren richtigen Namen mitgeteilt«, sagte Neumann. »Wie lautet er?«
»Mein richtiger Name war Anna Katarina von Steiner«, sagte sie mit schläfriger Stimme. »Aber es ist mir lieber, wenn Sie weiter Catherine zu mir sagen. Kurt Vogel hat Anna nämlich getötet, bevor er sie nach England geschickt hat. Anna existiert leider nicht mehr. Anna ist tot.«
Als Neumann wieder sprach, kam seine Stimme aus weiter Ferne, wie vom anderen Ende eines langen Tunnels.
»Wie konnte es mit einer schönen und intelligenten Frau wie Anna Katarina von Steiner so weit kommen?«
»Das ist eine sehr gute Frage«, sagte sie, und dann gewann die Erschöpfung die Oberhand, und sie schlief ein.
Der Traum ist ihre einzige Erinnerung daran. Aus ihrem bewußten Denken ist es gnädigerweise schon lange verdrängt.
Mal sieht sie es im Traum aus ihrer eigenen Perspektive, als durchlebte sie es noch einmal, mal beobachtet sie es von ferne wie eine Zuschauerin auf der Tribüne.
Heute durchlebt sie es.
Sie liegt am Ufer des Sees. Papa hat sie alleine gehen lassen.
Er weiß, daß sie nicht ins Wasser gehen wird, denn es ist zu kalt zum Schwimmen. Und er weiß, daß sie gerne allein ist, um an ihre Mutter zu denken.
Es ist Herbst. Sie hat eine Decke mitgebracht. Am Morgen hat es geregnet, und das hohe Gras am Ufer des Sees ist noch feucht. Der Wind streicht durch die Bäume. Ein Schwarm Krähen stiebt auseinander und kreist krächzend über ihrem Kopf. Flammend rote und orangefarbene Blätter fallen von den Bäumen, schweben sanft wie kleine Heißluftballons herab und landen auf der gekräuselten Wasseroberfläche.
In diesem Augenblick, als sie den Blättern mit den Augen folgt, entdeckt sie den Mann. Er steht unter den Bäumen am anderen Seeufer.
Er steht lange Zeit reglos da und beobachtet sie, dann kommt er zu ihr herüber. Er trägt kniehohe Stiefel und eine Jacke, die ihm bis zu den Oberschenkeln reicht. Und in seiner Armbeuge liegt eine aufgeklappte Schrotflinte. Seine Haare und sein Bart sind zu lang, seine Augen rot und feucht. Als er näher kommt,
kann sie etwas an seinem Gürtel hängen sehen. Es sind zwei blutige Kaninchen. Im Tod sind sie schlaff und wirken unnatürlich lang und dünn.
Papa hat ein Wort für solche Männer, Wilddiebe. Sie kommen auf das Land anderer Leute und töten die Tiere - Hirsche, Kaninchen und Fasanen.
Der Wilddieb fragt, ob er sich neben sie setzen darf, und sie sagt ja.
Er hockt sich hin und legt die Flinte ins Gras.
»Bist du allein hier?«fragt er.
»Ja, mein Vater hat es erlaubt.«
»Wo ist dein Vater jetzt?«
»Er ist im Haus.«
»Und er kommt nicht hierher?«
»Nein.«
»Ich will dir etwas zeigen«, sagt er. »Es wird dir Spaß machen.«
Seine Augen sind jetzt sehr feucht. Er lächelt. Seine Zähne sind s chwarz und verfault. Zum ersten Mal fürchtet sie sich vor ihm. Sie will aufstehen, aber er packt sie an den Schultern und drückt sie zurück auf die Decke. Sie will schreien, aber er erstickt den Schrei mit einer großen behaarten Hand. Plötzlich liegt er auf ihr, so schwer, daß sie sich nicht rühren kann. Er greift ihr unter das Kleid und zerrt an ihrer Unterwäsche.
Nie zuvor hat sie solche Schmerzen empfunden. Ihr ist, als werde sie entzweigerissen. Mit der einen Hand hält er ihr die Arme hinter dem Kopf fest, die andere preßt er ihr auf den Mund, damit niemand sie schreien hört. Die toten Kaninchen werden gegen ihren Schenkel gedrückt. Sie sind noch warm.
Dann verzerrt sich das Gesicht des Wilddiebs, als habe er Schmerzen, und es ist vorbei, so plötzlich, wie es begonnen hat.
Er redet wieder mit ihr.
»Hast du die Kaninchen gesehen? Hast du gesehen, was ich mit ihnen gemacht habe?«
Sie will nicken, aber er preßt ihr die Hand so fest auf den Mund, daß sie den Kopf nicht bewegen kann.
»Wenn du irgend jemand erzählst, was heute passiert ist, mache ich mit dir dasselbe. Und mit deinem Vater. Ich erschieße euch beide, und dann hänge ich euch an meinen Gürtel. Hast du das verstanden, mein Kind?«
Sie beginnt zu weinen.
»Du bist ein sehr ungezogenes Mädchen«, sagt er. »Oh ja, das sehe ich. Ich glaube, es hat dir tatsächlich Spaß gemacht.«
Dann tut er es noch einmal.
Jemand schüttelt sie. So hat sie es noch nie geträumt. Jemand ruft ihren Namen. Catherine...
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