Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
großartige Theorie, aber weiter bin ich bis jetzt noch nicht gekommen.«
Die letzten drei Fotos der Serie waren anders. Darauf waren Baumstämme und dichtes Laub und in der Ferne, durch eine Lücke zwischen den Bäumen, eine kleine Scheune zu sehen. Das ist der Blick vom Grab, dachte ich und versuchte Leonard Novaks Gedanken nachzuvollziehen: So soll man es eines Tages wiederfinden können.
Ich hatte zwei Serien Abzüge mitgebracht. Eine ließ ich Emert da, die andere nahm ich mit, als ich die Polizeidienststelle verließ, den Parkplatz überquerte und meinen Wagen aufschloss. Ich setzte mich hinters Steuer und ließ den Motor an, doch dann saß ich nur da, und meine Gedanken drehten sich schneller als der Motor.
Durch diese Filmpatrone hatte sich eine Geschichte enthüllt. Eine seltsame Geschichte von jenseits des Grabes, erzählt von einem Mann, dessen Ermordung das bizarrste Tötungsdelikt war, das mir je untergekommen war. Ich wusste noch nicht, worauf die Geschichte hinauslief, und vielleicht würde ich nie dahinterkommen, doch ich konnte das nächste Kapitel kaum abwarten.
Ich schaltete den Motor aus und stieg wieder aus dem Wagen.
17
Ich sah sie nicht am Auskunftstisch, und der Oak-Ridge-Raum war abgeschlossen und leer. Enttäuscht wandte ich mich zum Gehen. Auf dem Weg nach draußen wollte ich am Ausleihtisch fragen, wann Isabella, die historisch interessierte Bibliothekarin, da war. Als ich mich dem Tisch näherte, hörte ich ganz aus der Nähe eine Stimme. »Dr. Brockton? Sind Sie das?«, fragte sie von irgendwo zwischen den Regalreihen.
Ich drehte mich um. »Oh, hi«, sagte ich. »Ich habe gerade nach Ihnen gesucht. Ich hatte schon befürchtet, Sie würden heute Nachmittag nicht arbeiten.«
»Bis sechs«, sagte sie und trat aus den düsteren Regalreihen heraus. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wüsste gern, ob ich mir die Aktenordner mit den Fotos vom Manhattan-Projekt noch einmal anschauen könnte?«
»Selbstverständlich«, antwortete sie, führte mich zu dem Raum mit den Glaswänden und schloss mir die Tür auf. »Suchen Sie irgendetwas Spezielles?«
»Ich meine mich zu erinnern, dass es eine Reihe von Fotos von Häusern und Farmen gab, die schon standen, als das Projekt anfing. So eine Art ›Vorher‹-Bilder von Oak Ridge?«
Sie lächelte. »Sie haben gut aufgepasst«, meinte sie und zog aus Dutzenden von dicken Aktenordnern, die die Regale füllten, einen heraus und reichte ihn mir. »Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?«
Beinahe hätte ich gesagt, dass ich es als hilfreich empfände, wenn sie mir beim Mittagessen Gesellschaft leistete, aber das erschien mir dann doch etwas zu forsch. »Nein, das war’s fürs Erste«, sagte ich. »Vielen Dank.«
»Sagen Sie ruhig Bescheid, wenn Ihnen noch etwas einfällt«, meinte sie und zögerte kurz, bevor sie sich umdrehte und davonging. Ich wusste nicht, warum, doch diese halbe Sekunde des Zögerns machte mir Hoffnung, dass sie irgendwie meine Gedanken gelesen hatte und dass ihr womöglich gefallen hatte, was sie dort las.
Der Aktenordner war acht Zentimeter dick, und die Schwarzweißfotos steckten in klaren Plastikhüllen. Ich blätterte durch die Seiten und sah verwitterte Farmhäuser, baufällige Scheunen, Tabakschuppen, Heuwagen, Gemischtwarenläden, kleine Kirchen, von Mauleseln gezogene Pflüge. Ich wusste, dass die Fotos aus den frühen 1940er Jahren stammten – die meisten von Anfang des Jahres 1943, denn in diesem Frühjahr hatte der Bau von Oak Ridge und seiner drei großen Anlagen mit vollem Ernst begonnen –, doch viele Fotos wären auch als Aufnahmen aus den 1920er-Jahren oder sogar aus den 1890er-Jahren durchgegangen. Was für ein unvorstellbarer Wandel: von einer ländlichen, verschlafenen Gegend zu einer brodelnden, wimmelnden Unternehmung, welche die Möglichkeiten der Wissenschaft, der Technik und allen menschlichen Strebens einen ungeheuren Schritt voranbrachte. Was die vertriebenen Bauern wohl gedacht hatten? Wie viele hatten von John Hendrix und seiner abstrusen Vision gehört, von der er zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gesprochen hatte?
Die Bilder waren faszinierend, brachten mich jedoch nicht weiter. Ich hatte den Aktenordner geöffnet und gehofft, auf einem der Fotos wäre eine Scheune wie die auf Leonard Novaks Fotos – eine kleine Scheune am Fuß eines bewaldeten Höhenzugs, an einem Ende ein Silo. Obwohl der Aktenordner zahlreiche Fotos von Scheunen, Silos und Wäldern enthielt, waren
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