Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
verwundbaren Stellen.«
Sie schaute eine ganze Weile aus dem Fenster. »In Ordnung«, sagte sie schließlich, den Blick immer noch nach draußen gerichtet. »Ich nehme an, es hat keinen Sinn mehr, sein Geheimnis länger zu hüten.« Sie wandte sich um und sah mich an. »Leonard war schwul. Ein warmer Bruder, wie man so schön sagt. Warm wie der Dschungel im Kongo.« Ich weiß nicht, was mich mehr überraschte, die Tatsache an sich oder die Grobheit, mit der sie darüber sprach. Sie hatte wohl meinen verdatterten Gesichtsausdruck bemerkt. »So etwas galt damals als Perversion. Wenn sie es gewusst hätten, hätte er seine Unbedenklichkeitsbescheinigung niemals behalten.«
In dem Punkt hatte sie wahrscheinlich recht. »Ich möchte nicht taktlos sein«, sagte ich, »aber wieso haben Sie das vor Ihrer Hochzeit nicht gemerkt?«
»Ich redete mir ein, er wäre der perfekte Gentleman«, sagte sie. »Dass er mich auf ein Podest gestellt hätte und meinen Ruf nicht beflecken wollte.« Sie senkte den Blick. »Vielleicht war ich auch so begeistert, dass ich mir einen so großen Fisch geangelt hatte, dass ich es vorzog, die Warnsignale zu ignorieren.«
»Wenn er homosexuell war, warum hat er Sie dann gebeten, seine Frau zu werden?«
»Vielleicht, um sein Geheimnis zu wahren«, sagte sie. »Vielleicht hatte er auch gehofft, darüber hinwegzukommen. Das dachten die Leute damals, wissen Sie. Aber das war natürlich unmöglich. In unserer Hochzeitsnacht hat er mir einen Kuss auf die Lippen gedrückt, aber das war ein Kuss, wie man ihn einer Schwester oder einer alten Freundin gibt – ein kurzes Küsschen mit spitzen Lippen. Dann zog er sich zurück und sah mich an, und sein Blick war voller Scham und Traurigkeit. ›Oh, Beatrice‹, sagte er. ›Was habe ich dir nur angetan?‹ Dann wandte er mir den Rücken zu und weinte. Mein Bräutigam – der geniale, geistsprühende Wunderknabe des Manhattan-Projekts – weinte, weil er mich nicht begehrte und nie begehren würde. Wir haben nie darüber geredet. Das hat man damals einfach nicht gemacht, außer man war Oscar Wilde. Wir schlossen einen Pakt des Schweigens, ohne je darüber zu sprechen. Selbst der Pakt war ein Geheimnis. Er hat seine Bürde getragen und ich meine. Nach dem Krieg, nach der Bombe, habe ich ihn um die Scheidung gebeten.« Sie schwieg, und ich ließ sie eine Weile mit ihren Gedanken allein.
Als sie sich schließlich umwandte, um mich anzusehen, sagte ich: »Es tut mir leid. Das muss sehr schmerzlich gewesen sein für Sie beide. Ich weiß nicht, ob es ein Licht auf seinen Tod wirft, aber ich weiß es zu schätzen, dass Sie mir so weit vertrauen, dass Sie es mir erzählt haben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Was spielt es jetzt noch für eine Rolle? Er ist tot, und ich bin es auch bald. Wen sollte es jetzt noch interessieren?« Sie atmete tief durch. »Doch Leonard hat noch eine Last getragen.« Von dem kleinen Tisch neben ihrem Sessel nahm sie ein zerknittertes, vergilbtes Blatt Papier. »Dies ist ein Eintrag aus seinem Labortagebuch vom November 1943«, sagte sie. »Er schrieb es, unmittelbar nachdem der Graphitreaktor kritisch wurde. Dann hat er sich Sorgen gemacht, dass man ihn für unpatriotisch halten könnte, wenn es dem militärischen Nachrichtendienst unter die Augen käme, und hat die Seite herausgetrennt.« Sie reichte mir das Blatt. Als ich es auseinanderfaltete, befürchtete ich, das dünne Papier würde an den Falzstellen ganz durchreißen. Die Tinte war verblasst, doch die Worte, in kleiner, exakter Handschrift, schienen vom Papier zu springen, während ich sie las.
4. November 1943
Es ist aufregend. Und es ist grauenhaft.
Wir haben den ersten Plutonium-Produktionsreaktor der Welt gebaut, und er funktioniert. Technisch gesehen ein Riesenschritt, weit über den Chicago Pile hinaus. Er ist viel größer und viel komplexer als Fermis einfaches Kriegen-wir-es-hin?-Experiment. Er wurde nicht erbaut, um damit ein paar Experimente zu fahren, sondern um viele Jahre lang zu arbeiten.
Und er wurde aus dem einzigen, zielstrebigen Wunsch heraus gebaut, Werkzeuge zur massenhaften Tötung herzustellen.
Fermis behelfsmäßigem Reaktor haftete die Rationalisierung der Forschung an. Es war ein wissenschaftliches Spiel, und niemand wusste, ob er einer Spaltungsreaktion standhalten würde. Wir waren in der luxuriösen Situation, gespannt und aufgeregt sein zu können, als es gelang.
Heute wissen wir zweifelsfrei, dass kontrollierte Kernspaltung möglich ist,
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