Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
Tante Rachel war die Schwester meines Vaters –, und meine Mutter sagte, sie wolle sie besuchen und mir New York zur Weihnachtszeit zeigen. Wir stiegen an einem Freitag um die Mittagszeit in Raleigh um und fuhren die ganze Nacht, um nach New York zu gelangen. Wir teilten uns eine Koje in einem Schlafwagenabteil, und ich weiß noch, dass ich einschlief, während meine Mutter mich im Arm hielt, was seit Jahren nicht mehr vorgekommen war.
Wir kamen am späten Nachmittag des ersten Weihnachtsfeiertags an der Penn Station an – das war, wohlgemerkt, die alte Penn Station, die wirklich spektakulär war, viel eindrucksvoller als der Grand Central. Von dort nahmen wir ein Taxi durch die Stadt zum Rockefeller Center. Die Eislaufbahn unter freiem Himmel dort war an diesem Tag eröffnet worden. Es war der 25. Dezember 1936. Es war so schön, dass mir das Herz wehtat – der ganze Weihnachtsschmuck und die Kerzen, und alle trugen ihre besten Wintersachen.
Das Land fing gerade an, die Große Depression hinter sich zu lassen, und ich glaube, an diesem Weihnachtsabend auf dem Rockefeller Square haben die Menschen nicht nur Jesu Geburt gefeiert, sondern auch die Wiedergeburt Amerikas. Meine Mutter und ich warteten stundenlang in der Schlange, um eislaufen zu können, und schleiften unsere ramponierten kleinen Koffer mit. Mir machte das Warten nichts aus, ich war ganz berauscht von dem Anblick und den Geräuschen und dem Zauber des Ganzen. Als wir schließlich ganz vorne in der Schlange waren, meinte meine Mutter, sie würde nicht eislaufen, sie würde bei unseren Koffern bleiben und mir zuschauen. Sie fragte einen Jungen in der Schlange hinter uns, ob er mir ein bisschen helfen könnte. Er war ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein, zwei Jahre älter. Alt genug, um interessant für mich zu sein, aber nicht so alt, dass er mich eingeschüchtert hätte. Er hielt mich an der Hand und zog mich wankend, kreischend und lachend hinter sich her. Jedes Mal, wenn wir eine Runde an der Stelle vorbeizogen, wo meine Mutter hinter der Bande stand, winkte sie und rief mir etwas Ermutigendes zu.
Und dann ließ der Junge meine Hand los, und ich lief allein. Es war entsetzlich und aufregend – ich bin bestimmt nur zentimeterweise vorangerutscht, aber ich kam mir so wagemutig und erwachsen vor, und ich konnte es kaum erwarten, die Bahn zu ziehen und das Gesicht meiner Mutter zu sehen, wenn sie merkte, dass ich ohne Hilfe unterwegs war. Doch ihr Gesicht war nicht da. Der dicke Mann mit dem roten Schal, der direkt neben ihr gestanden hatte, war noch da, und auch die Nonne, die auf ihrer anderen Seite gewesen war. Doch sie war weg, und die Lücke, wo sie gestanden hatte, schloss sich schon wieder hinter ihr.
Ich glitt an dem dicken Mann und der Nonne vorbei – ich war durcheinander, und ich wusste auch nicht, wie ich anhalten sollte – und fuhr noch eine Runde auf der Eisbahn. Als ich zum zweiten Mal an der Stelle vorbeikam, fuhr ich an die Bande, um zu bremsen. Ich war immer noch ein Stückchen von den mir bekannten Gesichtern entfernt, also zog ich mich mit den Händen an der Bande entlang, während mir die Füße immer wieder wegrutschten. Ich weiß noch, dass die Leute lachten und mit dem Finger auf mich zeigten, sooft ich die Bande packte und mich wieder hochzog. Als ich vor dem dicken Mann und der Nonne stand, gefror mein Herz zu Eis, und ich spürte, wie mir Tränen über die Wangen liefen – nicht weil die Leute über mich lachten, sondern weil ich wusste, dass etwas nicht stimmte.
Unsere Koffer waren noch da, an die Bande gezwängt, da, wo sie die ganze Zeit gestanden hatte. Die Nonne erzählte mir, meine Mutter hätte auf die Toilette gemusst und wäre in ein paar Minuten wieder da. Aber irgendwie wusste ich, dass das nicht stimmte.
Nachdem ich eine halbe Stunde weinend am Geländer gestanden hatte, half die Nonne mir, die Schlittschuhe aus- und meine Schuhe wieder anzuziehen, dann ging sie mit mir zu einem Polizisten, der in der Nähe des Eingangs zur Eisbahn stand. Ich erzählte ihm, was passiert war, und ich sah, wie er mich taxierte – ein mageres Mädchen aus der Provinz mit tränenverschmiertem Gesicht, Triefnase und einem billigen Pappkoffer. Er bekam einen traurigen, müden Gesichtsausdruck, und da wusste ich, dass ich meine Mutter nie wiedersehen würde.
Auf der Taxifahrt vom Bahnhof zum Rockefeller Center hatte meine Mutter mir mit viel Getue einen großen Umschlag in die Manteltasche gesteckt, in dem Tante Rachels
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