Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
Nacht hatte ich einen Traum. In meinem Traum reckten Garcia und Miranda mir hilfesuchend die Hände entgegen, doch ihre ausgestreckten Hände zerfielen vor meinen Augen, und an ihren Handgelenken blieben nur blutende Stümpfe zurück. Dann wechselte der Traum die Gestalt, und ich sprach in Oak Ridge in einem Hörsaal vor einer großen Menschenmenge. Ich merkte, dass ich zu ihnen über den atomaren Geist sprach, der mit Hilfe ihrer Stadt aus der Flasche befreit worden war, und ich war verstört. Ich hörte, wie ich zu ihnen sagte: »Wurde jemals jemandem damit geholfen?« Auf meine Worte folgte tiefes Schweigen, selbst ich, der die Worte träumte, war schockiert darüber. Da bemerkte ich hinten im Saal eine Bewegung. Eine Frau erhob sich langsam und blieb stehen. Um den Kopf hatte sie sich einen Schal gewickelt, wie es Frauen gern tun, die ihre Haare durch Bestrahlung oder Chemotherapie verloren haben. Die Frau sagte nichts, sie rührte sich nicht, sie stand einfach da, nahm diesen Raum ein, eine stille Antwort auf die bittere Frage, die ich in den Saal geworfen hatte.
Köpfe drehten sich in ihre Richtung, als sie aufstand, und die Atmosphäre im Traum-Saal war plötzlich lebendig und elektrisch geladen, prickelte wie die Luft in Tennessee kurz vor einem Sommergewitter. Dann stand eine zweite Person auf, und bald waren ein Dutzend weiterer Menschen auf den Füßen, stumme Zeugen für erfolgreiche Heilung, diagnostizierte Krankheiten, beheizte Häuser, sichere Pipelines und Flughäfen.
Der Letzte, der aufstand, war direkt vor mir. Er erhob sich langsam, als bereitete ihm das Stehen Schmerzen, und den Kopf hielt er gesenkt. Langsam hob er den Kopf, und ich blickte in Augen, die sowohl gehetzt waren als auch hoffnungsvoll. Ich blickte in die Augen von Robert Oppenheimer.
Als ich wach wurde oder träumte, ich würde wach, schien auch ich die Welt mit solchen Augen zu betrachten.
25
Thornton hatte Miranda ein Friedenszeichen geschickt: ein Dutzend Iris, noch nicht aufgeblüht, die aussahen wie grüne, in Indigo getunkte Künstlerpinsel. Zwischen den blauen Spitzen steckten sieben kleine Sonnenblumen, die wie eine Woche voller Sommertage leuchteten. Miranda war nicht im Labor, als ich sie entdeckte. Ich wusste, dass sie von Thornton waren, weil neben der Vase eine Visitenkarte lag, auf der sein Name stand, das FBI-Logo und das Wort »Friede?«. Der Mann hatte Gespür, und er schien klug und mutig zu sein, also war er vielleicht doch noch im Rennen. Er war allerdings noch nicht bereit, das Risiko einzugehen, persönlich zu erscheinen, also erklärte ich mich einverstanden, ihn für unsere Fahrt zum Oak Ridge National Laboratory an der FBI-Dienststelle in der Innenstadt von Knoxville abzuholen. Mir war eine Idee gekommen, wo wir bei der Suche nach dem toten Mann auf Novaks Film ansetzen konnten, Thornton wollte mit jemandem vom Radioisotop-Programm sprechen, und so hatten wir beschlossen, zusammen nach Oak Ridge zu fahren.
Sobald wir die Solway Bridge überquert hatten, bogen wir nach Westen auf die Bethel Valley Road, ein langes, gerades, prärieflaches, zweispuriges Band, das zum Laboratorium führte. Acht Kilometer in das Bethel Valley hinein hielten wir an einem Sicherheitsposten, wo ein bewaffneter Wachmann ein Klemmbrett und meinen Führerschein konsultierte und mir dann leicht zunickte. Vor Thorntons FBI-Dienstmarke machte er förmlich einen Kniefall. Nicht dass ich eifersüchtig gewesen wäre oder so.
Die Straße, auf beiden Seiten von Kiefern und Laubbäumen gesäumt, führte weitere drei Kilometer schnurgerade durch das Tal. Sie streifte eine gefrorene Bucht des Melton Hill Lake und führte dann zu dem ausgedehnten Laboratoriumskomplex. Das Oak Ridge National Laboratory – von den meisten Wissenschaftlern, die dort arbeiteten, nur »das Laboratorium« genannt, von den Abkürzungsfanatikern als »ORNL« bezeichnet und von den einfachen Arbeitern als »X-10« – war die einzige Forschungseinrichtung, die während des Manhattan-Projekts in Oak Ridge gegründet worden war. DieY-12-Anlage und die K-25-Anlage waren riesige Produktionsstätten gewesen, wo Heerscharen von Arbeitern wie Beatrice gearbeitet hatten. In dem Laboratorium waren jedoch schon zu Kriegszeiten mehr Physiker, Chemiker und Ingenieure beschäftigt gewesen. Es war um den Graphitreaktor herum gebaut worden – eine gigantische Version von Fermis behelfsmäßigem Reaktor in Chicago –, sodass Leonard Novak und seine Kollegen die Instrumente
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