Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
Adresse und Telefonnummer waren, zusammen mit einem Fünf-Dollar-Schein und einer Weihnachtskarte für Rachel und Onkel Isaac. »Pass gut für mich darauf auf« , hatte sie gesagt. »Du bist jetzt ein großes Mädchen, und du weißt ja, dass ich dauernd was verliere. Wenn wir in das Taxi nach Brooklyn steigen, dann sind die Adresse und das Taxigeld gleich zur Hand, sicher in deiner Tasche verwahrt. « Das hatte sie gesagt und dabei auf meine Manteltasche geklopft.
Als ich dem Polizisten von Tante Rachel und dem Briefumschlag erzählte, ließ er mich ihn herausnehmen und öffnen. In der Weihnachtskarte steckten zwei Briefe. Einer war an Tante Rachel gerichtet, und meine Mutter erklärte ihr darin, dass sie einen Mann kennengelernt hatte, den sie liebte und mit dem sie zusammen sein wollte, doch der Mann – sie nannte nicht einmal seinen Namen – wollte sich nicht mit einer Dreizehnjährigen belasten. Sie schrieb, sie würde mit ihm nach Südamerika gehen, wo er an einem großen Bauvorhaben arbeiten werde. Sie entschuldigte sich für das unerwartete Weihnachtsgeschenk – mich – und bat Rachel, bitte nett zu mir zu sein.
Der andere Brief war an mich gerichtet. Sie schrieb, sie liebe mich und werde mich immer lieben und hoffe, ich könnte sie eines Tages verstehen und ihr verzeihen. Das konnte ich nie, und das habe ich nie.
Ich weiß nicht, wie meine Mutter sich die Zugfahrkarten leisten konnte, doch Jahre später kamen mir zwei Möglichkeiten in den Sinn. Vielleicht hatte sie in dem Hotel, wo sie arbeitete, Geld unterschlagen. Vielleicht hatte auch der Mann, wegen dem sie mich im Stich ließ, ihr das Geld gegeben.
Ich weiß nicht, ob sie mit diesem Mann tatsächlich nach Südamerika gegangen ist. Das hatte sie vielleicht nur geschrieben, um uns von ihrer Spur abzulenken. Vielleicht haben sie und der Mann sich in Schenectady oder Cincinnati ein neues Zuhause geschaffen. Was das angeht, ich weiß nicht einmal, ob es wirklich einen Mann gab, vielleicht hatte sie sich den auch nur aus den Fingern gesogen, als plausiblen Grund, sich von ihrem Kind abzuwenden. Alles, was ich weiß, ist, dass ich nie wieder etwas von ihr sah oder hörte.
Tante Rachel half mir, für nachmittags, nach der Schule, einen Job bei Woolworth in Brooklyn zu bekommen. Viel kam dabei nicht herum, aber meine bescheidenen Lohnschecks gaben mir das Gefühl, ihnen nicht ganz so sehr zur Last zu fallen. In dem Sommer, nachdem ich die Highschool abgeschlossen hatte, bekam ich Arbeit in der Flugzeugfabrik Grumman auf Long Island. Grumman hat Jagdflugzeuge für die Kriegsmarine gebaut – die Wildcat und die Hellcat, die berühmt wurden wegen ihrer Belastbarkeit gegen die Japaner –, und ich war am Bau der Instrumentenbretter beteiligt.
Tante Rachel hat nie etwas gesagt, aber ich spürte, dass ich ihre Gastfreundschaft reichlich überstrapaziert hatte, also erwähnte ich irgendwann im Sommer, es sei vielleicht an der Zeit, dass ich mir etwas Eigenes suchte. Aber New York war teuer, und ich machte mir Sorgen, ob ich zurechtkommen würde. Sie sprach von ihrem anderen Bruder – dem Bruder meines Vaters, den meine Mutter nie gemocht hatte. Dieser Onkel, Onkel Jake, lebte in Knoxville, und er hatte Rachel geschrieben, sämtliche jungen Frauen in Tennessee würden in der Kriegsindustrie in der Nähe von Knoxville Arbeit finden.
Und so kam es, dass ich im September 1943 in Knoxville aus dem Zug stieg und schon eine Woche später half, Atom für Atom, die Bombe zu bauen.
24
Als ich das Knochenlabor betrat, saß Miranda konzentriert tief über einen Labortisch gebeugt. In dieser Körperhaltung hatte ich sie schon so oft gesehen, so viele Stunden lang, dass es mich manchmal überraschte, dass sie tatsächlich stehen und sogar aufrecht sitzen konnte, statt sich über Knochenfragmente zu beugen.
»Mist«, sagte sie. »Ich bin zu dumm und zu ungeschickt hierfür.«
»Woran arbeiten Sie?« Ich beugte mich vor und erwartete, winzige Knochenfragmente und eine Flasche Duco-Klebstoff zu sehen. Der Schädel des Skeletts aus dem Norden von Knoxville war zu Dutzenden von Teilen zerdrückt worden, einige von der Größe grober Salzkörner. Doch statt grauer Knochen sah ich einen leuchtenden Farbklecks: ein kleines Stück magentafarbenes Papier, zu unzähligen borstigen kleinen Dreiecken gefaltet. »Ist das Origami?«
»Soll es sein, ist es aber nicht. Verdammt!« Frustriert zerknüllte sie das Papier und warf es in den Abfalleimer neben dem Tisch. Es verfehlte
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