Dr. Ohio und der zweite Erbe
Testamentseröffnung geladen waren. Bis auf zwei weitere Namen standen dieselben Leute darauf wie schon beim ersten Treffen.
„Herr ... Wieri sagte mir, dass es keine Verwandten gäbe?“, fragte Dr. Ohio erstaunt.
„Das ist so nicht ganz richtig“, erwiderte Dr. Laudtner zögernd. „Es gibt zwei Neffen, Boris und Karl. Allerdings scheint es nahezu aussichtslos, die beiden aufzutreiben. Ich habe in zwei überregionalen Zeitungen und in der hiesigen Regionalzeitung eine Anzeige geschaltet. Aber bisher kam keine Antwort.“
Dr. Laudtner hatte die Testamentseröffnung außerdem im Tübinger Amtsblatt ausschreiben lassen. Keine Reaktion. Eine Adresse oder nähere Angaben zur Person gab es nicht. Er mache sich große Sorgen wegen des Testaments, sagte der Anwalt. Dr. Ohio zuckte gleichgültig mit den Schultern. Er ging davon aus, dass Höpfner konkrete Anweisungen in seinem Testament hinterlassen hatte, und die würde er so gut wie möglich befolgen.
Wider Erwarten war es ein schöner Tag. Ein fröhlicher Wind trieb kleine, weiße Wolkenfetzen über den blauen Himmel. Die Sonne wärmte noch nicht richtig, gab den Wiesen aber eine kräftige Farbe und dazwischen leuchteten die hellgrünen Weizenfelder. Schwärme von Schwalben jagten sich um den Dachfirst der Kapelle des alten Tübinger Stadtfriedhofs. Der Kontrast zwischen Zeit und Ort war augenfällig und nicht jedermann angenehm. Värie Wieri stand in einem engen, kneifenden Anzug mit Hochwasserhosen, die sein Gemächt unfreiwillig und unangebracht betonten, neben Dr. Laudtner und starrte finster den Vögeln nach. Er schien nicht gewillt, der Natur ihre Pietätlosigkeit zu verzeihen.
Der Anwalt war im Gegensatz zu Wieri blendend gelaunt, ohne es am nötigen Respekt fehlen zu lassen. Er war für die Beerdigung in feinstes schwarzes Tuch gekleidet, eine dunkelrote Nelke zierte das Revers. Seine schlaffen Wangen waren von einem ungesunden Rot gefärbt, die Augen glänzten, als hätte er gestern zu viel getrunken. Dr. Ohio hatte den Eindruck, als fühle er sich in Situationen sehr wohl, in denen ein festgelegter Ritus alle hemmt und diejenigen bevorzugt, die sich darin auskennen. Er bewegte sich wie ein Ballettmeister auf dem schmalen Vorplatz der kleinen Friedhofskirche, stieß zu jener Gruppe, dirigierte eine andere etwas zur Seite, um jemanden durchzulassen, hatte hier und da ein klärendes oder mitfühlendes Wort. Mit einer gewissen weltmännischen Art breitete er die Arme aus, als wolle er Dr. Ohio mitfühlend umarmen, um ihm dann doch nur mit einem warmen Druck die Hand auf den Arm zu legen und ihn mit tönender Stimme zu begrüßen.
Dr. Ohio kam nicht allein. Zu seiner Überraschung hatte seine Gehülfin gefragt, ob sie zur Beerdigung mitkommen dürfe. Sie war Höpfner einige Male begegnet, als er zu Ohio ins Sanatorium gekommen war. Sie hatten nicht viel miteinander zu tun gehabt, aber immerhin hatte sie ihn gekannt. Zu ihrer Überraschung gestattete Dr. Ohio ihr, ihn zu begleiten, und Erika stakste in halbhohen Schuhen, die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gerafft, in einem schwarzen, etwas engen Kostüm neben ihrem hageren Chef her und überragte ihn beinahe.
Dr. Laudtner hielt sich nicht lange mit der Begrüßung Ohios auf und wandte sich Erika zu.
„Die Gattin?“, fragte er galant und sah sie mit feuchten Augen an. Er war kurz davor, ihr einen Handkuss zu geben, besann sich aber noch rechtzeitig auf die Spielregeln einer Beerdigung und drückte auch ihr mitfühlend die Hand.
Ohio sah ihn ausdruckslos an.
„Das ist meine Assistentin“, sagte er und hielt es nicht für nötig, weitere Erklärungen abzugeben. Auch für Erika schien die Vorstellung völlig auszureichen, und der ganz leicht aus dem Konzept gebrachte Anwalt lächelte und rieb sich die Hände.
„So, ah ja“, murmelte er leise und ging dann mit ihnen hinüber zu den anderen Trauergästen.
Värie Wieri nickte Dr. Ohio grimmig zu. Ansonsten erkannte Ohio Hanne, die Haushälterin, den Gärtner und die kleine Frau, die sich als die Köchin entpuppt hatte. Es waren auch noch viele andere Leute da. Höpfner hatte offensichtlich nicht den zurückgezogenen Lebenswandel gepflegt, den Dr. Ohio von ihm angenommen hatte. Zumindest hatte es ja eine Zeit gegeben, in der er alles andere als ein Einsiedler gewesen war. Außerdem war er angeblich ein reicher Mann und hatte somit automatisch viele Bekannte in der Gegend. Der Bürgermeister war gekommen und der Landrat. Vom Bischofssitz in
Weitere Kostenlose Bücher