Dr. Ohio und der zweite Erbe
Rottenburg war der Bischof persönlich angereist. Allein das bedeutete schon ein Gefolge, das über das übliche Maß an Gästen bei einer Trauerfeier hinausging.
Höpfner, so hatte sich herausgestellt, war katholisch gewesen und hatte seine Mitgliedschaft in der Kirche nie beendet. Also war es für seine Haushälterin und Dr. Laudtner selbstverständlich, ihn nach katholischen Regeln zu beerdigen. Värie Wieri hatte heftig widersprochen. Nie und nimmer sei Höpfner noch Katholik gewesen, hatte er gezetert und auf seine langjährigen Forschungen über den Calvinismus zusammen mit ihm verwiesen. Aber in diesem Fall konnte sich die Haushälterin mit Unterstützung des Anwalts durchsetzen.
Es war Wieri hoch anzurechnen, dass er trotzdem zur Beerdigung gekommen war. Seine Einstellung zur katholischen Kirche konnte, ganz konservativ calvinistisch, getrost als feindselig bezeichnet werden. Er würdigte den Bischof und dessen Gefolge keines Blickes. Auch die Kapelle betrat er nicht, er spazierte auf dem schmalen Weg und vor der Tür auf und ab.
Die anderen Trauergäste gingen hinein. Ohio wollte sich mit Erika nach hinten setzen, aber Dr. Laudtner winkte ihnen, sie sollten weiter nach vorne kommen. Um unnötiges Aufsehen zu vermeiden, gingen sie zu ihm in die zweite Reihe. Die erste Reihe war für die Verwandten reserviert und leer geblieben. Während des allgemeinen Räusperns und Füßescharrens wandte sich Ohio bei jedem leisen Quietschen zur Tür um. Vielleicht, dachte er, kommen die Neffen ja doch noch. Aber er wurde enttäuscht: Es erschien keine Verwandtschaft. Die wenigen Nachzügler drückten sich schnell in eine der hinteren Bänke.
Dr. Ohio hatte noch nie einer katholischen Begräbnisfeier beigewohnt. Erika neben ihm murmelte ein Gebet mit und bekreuzigte sich. Nachdem der Priester die Gläubigen aufgerufen hatte, nach vorne zu kommen, stand auch sie auf, kniete neben Dr. Laudtner nieder und nahm eine Oblate und einen Schluck Wein aus einem großen Kelch entgegen. Dr. Ohio fühlte sich unbehaglich. Er empfand es als sehr unhygienisch, dass jeder aus demselben Kelch trank. Zwar kannte er die Rituale der christlichen Gottesdienste einigermaßen, aber eben doch nur vom Hörensagen.
Er betrachtete Höpfners Sarg, der neben dem Altar aufgebahrt stand und von einem unwirklichen Licht angestrahlt wurde. War es die von der Gegenwart des Toten überreizte Einbildung oder die raffinierte Beleuchtung des Bestattungsunternehmers, die einen gewissen Schein um die Konturen der Blumen zog? Die erstaunlich große, hölzerne Kiste war verziert mit allerlei Ornamenten und Blumenschmuck. Wozu die Größe?, fragte sich Ohio unwillkürlich. Er war doch ... Die Explosion hatte ihn doch in kleine Fetzen zerrissen. Jedenfalls hatte Wieri ihm das erzählt.
„Es war nicht mehr viel übrig“, hatte er gesagt und fromm die Hände gefaltet, als sie sich einmal im Treppenhaus von Höpfners Haus begegnet waren. „Freilich, die Seele ...“
Ohio war auf dem Weg in die Bibliothek gewesen, als Wieri ihm entgegenkam. Oje, hatte er gedacht, aber der Calvinist schien geläutert oder zumindest nicht in Kampfstimmung zu sein. Im Gegenteil.
„Dr. Ohio“, hatte er gemessen gesagt und ihn mit seinen wässrigen Augen fixiert. „Schön, dass ich Sie treffe. Ich möchte mich noch mal in aller Form bei Ihnen entschuldigen für die Art und Weise, wie ich mich neulich in der Bibliothek aufgeführt habe.“
Dr. Ohio war erleichtert gewesen, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, wann Wieri sich das erste Mal bei ihm entschuldigt hatte. Sie wechselten noch ein paar Worte und Wieri bot seine Hilfe an, wenn es irgendwelche Fragen geben sollte.
Und nun lag das, was nach Wieris Worten „übrig war“ von Carl Höpfner, in einem Sarg, der sicher viel zu groß war für die paar ... Teile. Die Trauergemeinde stimmte ein Lied an.
Ob eine solche Explosion, eine so verheerende Zerstörung des Körpers jemanden wohl aus dem ewigen Kreislauf wirft?, überlegte Ohio. Der Lehre nach ist die Seele unzerstörbar, aber wer weiß? Vielleicht nimmt sie ja doch Schaden, wird sozusagen aus der Umlaufbahn des Seins geschleudert, wenn man derart zugerichtet wird.
Seine Großmutter würde sagen, das spielt keine Rolle. Nichts, was unserem irdischen Leib widerfährt, spielt eine Rolle. Seishi, hätte sie gesagt und ihm eine Tafel gezeigt, auf der das Lebensrad der Buddhisten in vielen bunten Farben und Bildern dargestellt war. Als Kind hatte er diese Tafel geliebt,
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