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Dr. Ohio und der zweite Erbe

Dr. Ohio und der zweite Erbe

Titel: Dr. Ohio und der zweite Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Stichler
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es gab allerlei zu entdecken, Figuren, Farben, und zu allen Gestalten wusste seine Großmutter eine Geschichte. Er sah sie vor sich, ihr glattes, strenges Gesicht, das mit den Augen lachen konnte und dann auf einmal so freundlich und weich aussah. In ihrem Wohnzimmer stand ein alter, europäischer Schrank, in dem sie ihre Bücher aufbewahrte. Alles schien plausibel und logisch, wenn sie diese Tafel daraus hervorholte und ihm zeigte. Sie erklärte nicht nur die Welt, sondern auch das, was hinter ihr steckte.
    Das war lange her und für seine Großmutter hatte sich das Rad schon längst weitergedreht. Ach Skepsis, ach Europa, ach Denken, dachte Ohio mit einem kurzen, bitteren Bedauern. Vieles hatte sich geändert und der Inhalt von Höpfners Sarg ließ nur ein dumpfes Gefühl und einen unangenehmen Schauer zurück.
    Als sie dem Sarg den schmalen, von Hecken und Büschen gesäumten Weg zum Grab folgten, gesellte sich Wieri zum Trauerzug und reihte sich neben Dr. Ohio ein. Erika warf er einen missbilligenden Blick zu, was Ohio ihrer Vorliebe für etwas zu enge Kleider zuschrieb. Eine Weile ging er schweigend und mit gefalteten Händen neben den beiden her.
    „Großer Sarg“, flüsterte er irgendwann zu Dr. Ohio und blickte starr geradeaus. Ohio sah ihn überrascht an.
    „Tja, die Explosion hat ihn ganz schön zugerichtet“, fuhr Wieri fort. Und nach einer Pause: „Na ja, was soll’s.“
    „Ich dachte, Sie hätten Ihren Chef gerngehabt“, sagte Dr. Ohio ohne eine weitere erkennbare Regung.
    „Es geht nicht darum, ob ich ihn gerngehabt habe oder nicht. Ich kann nicht sagen, dass er mich schlecht behandelt hat. Aber er hat seine Studien und damit auch mich irgendwann sträflich vernachlässigt.“
    „Höpfner war ein Mann mit vielen Interessen.“
    „Nur ein Zyniker oder ein ...“, Wieri zögerte, bevor er weitersprach, „... ein Mann anderen Glaubens kann so etwas sagen. Glaube hat nichts mit Interesse zu tun. Gott ist kein Spielzeug, dem man für kurze Zeit seine Aufmerksamkeit schenkt und es dann zu den anderen Spielsachen ins Eck wirft.“
    „Das mag wohl sein. Ich habe mit Höpfner zu wenig über Glaubensfragen gesprochen. Und wenn, dann ging es meist um Informationen, nicht um die Festigkeit des Glaubens.“
    Wieri nickte leicht vor sich hin.
    „Haikus“, murmelte er. „Er hat seine Forschungen über den Calvinismus für kleine japanische Reime aufgegeben. Nichts für ungut, Dr. Ohio. Ich bin ein prosaischer Mensch und habe keine Ader für Lyrik. Aber was ist ein Reim, was das größte dichterische Epos von Milton wert gegenüber der Schöpfung und dem Schöpfer?“
    „Sie sollten wissen, dass ich Ihnen diese Frage nicht beantworten kann. Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Aber ich kann Ihnen eine Gegenfrage stellen: Ist es nicht gleichgültig, mit welchem Bereich von Gottes Schöpfung sich der Mensch beschäftigt, solange er sich damit beschäftigt? Nicht jeder hat den Ehrgeiz, die Schöpfung allumfassend zu ergründen.“
    „Wer, wie Höpfner, die Mittel dazu hat, der sollte versuchen, den Rest der Menschheit daran teilhaben zu lassen.“ Wieri nickte düster vor sich hin und Dr. Ohio konnte nicht umhin, ihm einen weiteren überraschten Seitenblick zuzuwerfen. Die Verbissenheit Wieris in Sachen Religion ging ihm etwas zu weit. Er hatte fast den Eindruck, als sei der Calvinist davon überzeugt, dass Höpfner durch Gottes Hand seiner gerechten Strafe zugeführt worden sei.
    „Welche Mittel meinen Sie?“, fragte er. Es konnten wohl kaum die finanziellen Mittel gemeint sein. Denn selbst wenn Höpfner reich gewesen war, wovon er ausging, so gab es wohl eine Menge andere, die noch wesentlich reicher waren als er.
    Wieris Miene wurde plötzlich verschlossen.
    „Wir haben lange an Schriften geforscht, die Hinweise auf ein bestimmtes Buch lieferten. Dieses Buch, davon bin ich überzeugt, wird uns tief greifende Erkenntnisse über Calvin und seine Lehre liefern“, sagte er stockend.
    „Und das befindet sich in Höpfners Bibliothek?“, fragte Dr. Ohio neugierig.
    „Ich weiß es nicht“, sagte Wieri schnell und wechselte das Thema: „Die Feuerwehr hat ihre Untersuchung an dem Tank, der in die Luft geflogen ist, abgeschlossen. Es war wohl ein Defekt in einem Zulaufventil. Irgendein Relais hatte einen Kurzschluss und das Ganze zum Explodieren gebracht. Sie schließen Fremdeinwirkung praktisch aus.“ Er sah Ohio befremdlich an. Praktisch?, dachte Ohio. Er sah misstrauisch und einen

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