Dr. Ohio und der zweite Erbe
Ohio und der Gärtner, der vielleicht ein bisschen eingenickt war, zuckten zusammen. Mit einem Blick auf die Uhr nickte der Notar. Ohio atmete auf. Die halbe Stunde war noch nicht ganz um, aber ehe die Zeit ihr Blatt ganz ausspielte, war es besser, zu beginnen. Und sollte doch noch jemand kommen, wäre das auch kein Problem.
5
Schwarze Buchstaben
auf vergilbtem Pergament,
bald wird es dunkel
Das Schlurfen von Schritten über den schachbrettgemusterten Boden und das leise Raunen von Tischgesprächen erfüllten die lichtdurchflutete Kantine des Sanatoriums. Dr. Ohio und Erika saßen an einem kleinen Tisch an der Front des Saals, deren Panoramascheibe den Blick auf die sonnigen Wiesen und Wälder freigab. Die Tische aus geschrubbtem Aluminium blinkten und Dr. Ohio rückte sein Tablett auf eine Stelle, die ihn mit ihren Lichtreflexen blendete.
„Ja, und?“, fragte Erika neugierig. Sie schlug die Beine übereinander und stocherte in ihrem Kartoffelbrei herum.
„Kartoffelbrei.“ Dr. Ohio rümpfte die Nase.
„Was denn? Sagen Sie bloß, Sie mögen keine Kartoffeln? Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der keine Kartoffeln mag.“
„Ich mag Kartoffeln. Aber es ist barbarisch, sie mit Milch zu pürieren.“
Erika winkte ab.
„Für Sie ist doch alles barbarisch, was aus dem Abendland kommt.“
„Nicht alles“, widersprach Dr. Ohio. „Und ich bin mir nicht einmal sicher, wo Kartoffelbrei erfunden wurde.“
„Ach ...“ Erika winkte wieder ab. „Erzählen Sie lieber weiter. Wie ist es ausgegangen?“
Dr. Ohio lächelte dünn und sah aus dem Fenster.
„Tja“, sagte er. „Die Wartezeit war vorbei und der Notar und Dr. Laudtner, von dem ich Ihnen übrigens schöne Grüße bestellen soll, setzten sich wieder hinter den Schreibtisch.“
„Salat mit Putenstreifen“, unterbrach ihn Erika und wies mit ihrer Gabel auf Dr. Ohios Teller. Laudtners Gruß ignorierte sie. „Pute. Als ob das besser wäre als Kartoffelbrei. Diese Puten werden in katastrophalen Verhältnissen gehalten, unter unmenschlichen und untierischen Bedingungen aufgezogen.“
„Meine Kritik am Kartoffelbrei bezog sich nicht auf die Haltung der Kartoffel, sondern auf ihre Zubereitung. Das ist ein Unterschied. Möchten Sie die Geschichte jetzt hören, oder nicht?“
„Auf jeden Fall“, sagte Ohios Gehülfin und schob sich eine Gabel Kartoffelbrei in den Mund.
„Zuerst wurden die Angestellten bedacht. Das ist wohl üblich so, denke ich mir, wenn man eine Haushälterin und einen Gärtner hat, der so an die Familie gebunden ist. Sie haben Geld geerbt und eine Art Wohnrecht in dem Haus oder etwas in der Art.“ Dr. Ohio blinzelte nachdenklich in die Sonne. „Erstaunlich war, wie ruhig Wieri bei dieser ganzen Verlesung geblieben ist. Es muss für ihn eigentlich unerträglich gewesen sein, dieses ganze langwierige Zeug anzuhören und nicht zu wissen, was mit seiner Arbeit und der Bibliothek nun geschehen wird.“
„Ist das der mit den fettigen Haaren?“, fragte Erika.
„Der Calvinist, ja“, bestätigte Dr. Ohio. „Aber er hatte sie gewaschen, glaube ich.“
Erika zuckte mit den Schultern.
„Wahrscheinlich hat er es schon gewusst“, sagte sie lapidar.
Dr. Ohio sah sie erstaunt an.
„Sie werden lachen, aber im ersten Moment habe ich dasselbe gedacht. Ich habe ihn betrachtet und gedacht: So ruhig kann er nur dasitzen, wenn er weiß, was passiert. Wieri ist ein Mann, der sich nicht mit Möglichkeiten und Versprechungen abspeisen lässt. Er will, dass alles ganz klar geregelt ist. Sonst wird er nervös.“
Erika verzog missbilligend den Mund. Sie nickte kurz einem jungen Arzt zu, der sie grüßte. Dr. Ohio wusste, dass er schon einige Male mit einer Einladung zum Essen bei ihr abgeblitzt war. Er sah ihm nach.
„Tja, und dann war Wieri dran. Besser gesagt, Wieri und Dr. Laudtner“, sagte er leise.
„Wie bitte?“, fragte Erika.
„Dann waren Wieri und Dr. Laudtner an der Reihe“, sagte Dr. Ohio lauter und machte eine wohlüberlegte Kunstpause. Erika sah ihn erwartungsvoll an.
„Wieri und Dr. Laudtner erben alles“, fuhr er dann fort. „Das Vermögen, die Villa, ein paar kleinere Häuser, ich glaube in der Schweiz und in Italien. Alle Buchhandlungen und einige Kunstwerke sollen in den Besitz einer zu gründenden Stiftung übergehen, deren Vorsitz die beiden sich teilen sollen. Das ist genauso gut, wie alles erben. Es soll ein Beirat gegründet werden aus verschiedenen Personen, die nach bestimmten Kriterien
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