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Dr. Ohio und der zweite Erbe

Dr. Ohio und der zweite Erbe

Titel: Dr. Ohio und der zweite Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Stichler
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Schreibtischlampe ausknipste und aufstand.
    „So. Ich gehe schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag“, sagte er. „Doktor, Sie wollen die Erben wohl an einem einzigen Abend ausfindig machen?“
    „Nein, nein. Ich lese nur noch kurz diesen Brief durch. Aber ich gehe auch bald. Sie haben recht. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Dr. Ohio lächelte höflich. „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“
    Wieri zögerte. Er machte Anstalten, näher zu kommen, was Dr. Ohio durch ein Rücken seines Stuhls und Rascheln mit dem Papier verhinderte. Der Finne drehte sich um.
    „Ja, Ihnen auch“, sagte er und zog die Tür hinter sich zu.
    Dr. Ohio atmete auf. Seit er die Pistole gefunden hatte, war er von einer Nervosität befallen gewesen, die ihn nicht mehr richtig losließ. Erst jetzt konnte er sich wieder ein wenig entspannen. Vorsichtig griff er in die Schublade und zog das schwere Ding hervor.
    Dr. Ohio verstand so gut wie nichts von Waffen, aber es war klar, dass die Pistole kein Erbstück von Höpfners Großvater war. Dazu sah sie zu modern aus. Höpfner musste sie selbst gekauft haben. Ohio überlegte einen Augenblick, dann ließ er die Waffe in der Tasche seines Jacketts verschwinden. Er schloss alle Türen und Schubladen am Schreibtisch sorgfältig ab und verließ die Bibliothek.
    Zu Hause schenkte er sich einen Whisky ein und ließ sich auf seine Couch plumpsen. Er zog die Pistole hervor und betrachtete das matte, leicht glänzende Metall. Er wusste, dass das Magazin wahrscheinlich im Griff versteckt war, hatte aber keine Ahnung, wie man es öffnete.
    Dr. Ohio hatte noch nie Angst davor gehabt, überfallen zu werden. Eine solche Möglichkeit war ihm noch nie in den Sinn gekommen. Ob er nun gutgläubig oder unvorsichtig war, in seinen eigenen vier Wänden – und das waren momentan die Zimmer im Ärzteblock des Sanatoriums – hatte er sich noch nie Sorgen darüber gemacht, jemand könnte in seine Wohnung eindringen und ihn bedrohen. Erst jetzt, als er die Pistole Höpfners in der Hand hielt, sah er sich unsicher um und es befiel ihn ein leichtes Kribbeln in der Nackengegend. Er stand auf und sah in sein Schlafzimmer. Leer. Einsam standen das blütenweiß bezogene, niedrige Bett und sein Kleiderschrank aus dunklem Holz. Was hatte er erwartet? Dr. Ohio schüttelte den Kopf und kehrte zu seinem Whisky zurück. Die Pistole legte er auf den Couchtisch.

6
    Ein Bild von Kindern,
die Zeit bleicht die Gesichter
hell und gelb wie Sand
    In den nächsten Tagen verbrachte Dr. Ohio viel Zeit in Höpfners Bibliothek. Vor allem abends saß er oft lange am Schreibtisch und durchforstete Briefe und Unterlagen nach Hinweisen auf die beiden Neffen. Fast immer saß auch Värie Wieri bis in die Nacht hinein an seinem Platz und aus den spärlichen Unterhaltungen, die sie führten, hörte Dr. Ohio heraus, dass auch Dr. Laudtner kaum ein Interesse daran hatte, die wahren Erben zu finden. Wieri selbst hatte ja kein Hehl daraus gemacht, dass er sich sowieso für den rechtmäßigen und einzig legitimen Erben des Vermächtnisses von Carl Höpfner hielt. Laudtner hoffte er mit ein paar leicht verdienten Piepen, wie er das nannte, abspeisen zu können.
    Ohio machte sich Sorgen. Wieri war ein Fanatiker. Manisch, würde er als Arzt urteilen. Zumindest manche Symptome stimmten überein. Der Finne hatte ein komplett übersteigertes Selbstwertgefühl. Er war überzeugt, von Gott zu etwas Höherem berufen zu sein, und schwadronierte, wenn er sich mit Dr. Ohio unterhielt, auch freizügig darüber. Sobald ihm widersprochen wurde, reagierte er gereizt. Zu schlafen schien Wieri so gut wie gar nicht – und das lag nicht daran, dass es die Zeit der Mittsommernachtswende war, während der es in seiner finnischen Heimat kaum einmal richtig dunkel wurde.
    Wieri war überzeugt davon, mithilfe des Buches, dessen Auffinden nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, eine neue Ära des reformierten Glaubens einläuten zu können. Ausgangspunkt dafür sollte eine Kolonie gläubiger Calvinisten sein, die sich bei Waldenbuch in der Nähe des Sanatoriums ansiedeln sollte. Von dort aus würde der Siegeszug der treuen Christen, für die er auch schon eine neue Bezeichnung erdacht hatte, starten. Die Appendisten nannte er seine künftigen Jünger, was sich einerseits auf den Anhang zu Calvins Institutio beziehen sollte, den er bald zu finden hoffte. Andererseits waren sie ja seine und Calvins Anhänger. Dr. Ohio verkniff sich die Bemerkung, dass Appendisten ja wohl von

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