Dr. Ohio und der zweite Erbe
Appendix komme, was den Blinddarm bezeichne, der ebenfalls völlig überflüssig sei. Er nahm es als ein Zeichen gesteigerten Größenwahns, dass inzwischen nicht mehr von Calvin und seinem treuen Diener die Rede war, sondern von Wieri und Calvin.
Mit der Suche nach den Neffen kam Dr. Ohio anfangs nicht so gut voran wie mit der Analyse seines Zimmergenossen. Bis zu einem warmen, sonnigen Nachmittag – der Doktor hatte die Fenster der Bibliothek geöffnet und Licht hineingelassen, nachdem er Wieri beim Studium der alten Bücher mit vorgezogenen Vorhängen und Leselampe gefunden hatte.
„Sie werden bald Lamellen ausbilden wie die Pilze“, hatte er gesagt.
Bis ihm also an diesem warmen, sonnigen Nachmittag ein leises „Oh“ entschlüpfte. Wieri fuhr herum wie von der Tarantel gestochen und Dr. Ohio wusste: Er hatte die ganze Zeit nur auf dieses „Oh“, auf irgendeine Reaktion von ihm gewartet. Hatte er sich überhaupt auf seine Texte konzentrieren können, solange Ohio im Raum war? Oder hatte er nicht vielmehr auf seine kleinsten Regungen gelauscht, angestrengt in die Leere hinter den Zeilen seiner alten Wälzer gestarrt und sich fortwährend zwei der Credos der calvinschen Lehre – Sola gratia und Sola fide , allein durch die Gnade Gottes und durch den Glauben wird der Mensch errettet beziehungsweise gerechtfertigt – vorgebetet?
„Was ‚Oh’?“, fragte der Finne bissig und starrte Dr. Ohio mit gelben, wässrigen Augen an. Seine Wangen waren, wenn das überhaupt möglich war, noch bleicher geworden. Würden seine dürftigen hellbraunen Strähnen irgendeine Spannkraft besitzen, dann hätten sie jetzt zu Berge gestanden. Dr. Ohio tastete unwillkürlich nach der Pistole, die er in der Jacketttasche bei sich trug. Er wusste nicht, warum, aber er hatte sie nach jener Nacht, in der er sie entdeckt hatte, schließlich wieder in die Tasche gesteckt und trug sie mit sich herum. Nicht überall, aber meistens, wenn er sich auf den Weg zu Höpfners Bibliothek machte. Er wüsste allerdings gar nicht, was er damit anfangen sollte, selbst wenn er in die Situation kommen würde, sie benutzen zu müssen.
„Tja“, sagte er. „Da ist ein Foto. Und Namen.“
Wieri war aufgesprungen und eilte zu ihm an den Schreibtisch.
„Wo?“
Ohio zeigte ihm einen Brief mit einem Bild von zwei Kindern, beide hatten dasselbe struppig schwarze Haar, trugen geringelte T-Shirts und kurze Hosen. Der eine hatte eine dicke Brille auf, seine Knie waren aufgeschlagen. Der andere grinste mürrisch in die Kamera und hielt seinen Bruder fest bei der Hand. Es war unübersehbar, dass die beiden Zwillinge waren.
„Ein Kinderbild“, murmelte Wieri. Es sollte abwertend klingen, aber man spürte seine Erregung. Er hatte im Traum nicht damit gerechnet, dass Dr. Ohio etwas finden würde. Und jetzt das.
Das Foto war aus einem zusammengefalteten Brief gefallen, den Dr. Ohio eigentlich zur Seite legen wollte. Hinten waren zwei Namen gekritzelt und ein Datum: Karl und Boris, Sommer 1992 – das heißt, die beiden mussten jetzt um die 30 Jahre alt sein, rechnete Ohio aus.
Dr. Laudtner verließ seine Kanzlei in der Bachgasse ungefähr um 21.00 Uhr. Über den Dächern lag der letzte Lichtschein der untergehenden Sonne, in dem engen Sträßchen herrschte schon zwielichtiges Halbdunkel. Weit und breit war niemand zu sehen. Obwohl es noch warm war, trug der Anwalt einen langen, nur leicht taillierten Mantel, der seinem massigen Körper einen Hauch von Kontur gab. Darunter sah ein Doppelreiher hervor, der ihn stattlich erscheinen lassen sollte, und ein teures, seidenes Hemd. Sein schwarzes Haar war sorgfältig nach hinten gekämmt. Doch die Kleidung und die teuren Cremes und Pomaden, die er aufgetragen hatte, kamen nicht an gegen die allgemeine Schlaffheit seiner Gestalt und seiner Wangen.
Laudtner störte sich daran allerdings nicht. Gut gelaunt pfiff er eine kleine Melodie, als er die Tür abschloss. Er war auf dem Weg in seinen „Klub“. So nannten er und ein paar Kollegen und ehemalige Schulkameraden ihr Treffen, das normalerweise einmal pro Woche stattfand. Eigentlich war der Klub das Hinterzimmer eines der besseren Gasthöfe in der Gegend an der Landstraße Richtung Wurmlingen.
Klub nannten sie das Ganze in Anlehnung an die vergangenen glorreichen Tage der russischen und englischen Aristokratie. Hauptsächlich kamen sie zusammen, um ausgiebig zu essen und zu trinken. Auch Glücksspiel und Damen spielten ab und zu eine Rolle, weshalb
Weitere Kostenlose Bücher