Dr. Ohio und der zweite Erbe
Kartenspielen an einem der groben Holztische rauchten sie Zigarren, Zigaretten, Pfeife oder Zigarillos wie zur Blütezeit des Tabakkonsums. Eine Sperrstunde schien nicht zu existieren. Es war nie voll in der „Träumenden Taube“, aber auch nie ganz leer. Und die Männer an der Theke, am Schachbrett oder beim Kartenspiel hätten ebenso gut in den 60er-Jahren über den Mauerbau und den kalten Winter diskutieren können wie Ende des 19. Jahrhunderts über die Entlassung Bismarcks oder 2011 über den möglichen Friedensnobelpreis für Helmut Kohl, die Staatsverschuldung oder das Bahnprojekt Stuttgart 21. Höpfner hatte die Kneipe geliebt.
„Wir verlassen jetzt das Raum-Zeit-Kontinuum“, sagte er zu Dr. Ohio, wenn sie die „Träumende Taube“ betraten. „Nur noch Raum.“
Lange Abende saßen sie vor dem Schachbrett, Höpfner qualmte, was das Zeug hielt, und sie tranken eine Flasche Wein.
„Der Wein ist nicht gut, aber dafür die Gesellschaft“, sagte Höpfner und prostete Dr. Ohio und den am Nebentisch Sitzenden zu. Er gab sich gern jovial und volksnah und war es auf eine bestimmte Art auch. Er war ein großer, breiter Mann mit einer tiefen Stimme und viel Geld, der es nicht verlernt hatte, mit den Leuten zu reden. Ohio hatte es ihm nie gesagt, aber er mochte ihn. Höpfner hatte trotz seines Alters etwas Kindliches an sich, eine Begeisterung auch für kleine Belange des Lebens.
„Wissen Sie, am meisten interessiert mich bei den Haikus die Thematik. Beziehungsweise die Regeln. Nicht so sehr die technischen oder grammatikalischen Regeln, sondern die fürs Thema eben.“ Höpfner lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und zündete sich zufrieden eine Zigarette an. Ihr Spiel war zu Ende und er hatte gewonnen.
„Nun ja“, sagte Dr. Ohio und teilte den letzten Rest aus der Flasche zwischen ihnen auf. „Die sind ja nicht so schwer. Es sollten Naturbetrachtungen ohne Wertung sein, die jeder für sich auslegen kann, wie er will.“
„Das ist es ja gerade. Was so einfach scheint, kann sehr schwer sein. Oder doch vertrackt. Sich in seinem eigenen Gedicht einer Meinung zu enthalten, ist oftmals nicht so leicht. Auch wenn es nur drei Zeilen umfasst.“
Dr. Ohio lachte.
„Sie können eine andere Form wählen, wenn Sie Ihre Meinung äußern wollen. Sie müssen keine Haikus schreiben.“
„Das ist mir schon klar, Doktor. Das habe ich ja gemeint: Vielleicht liegt für mich gerade darin der Reiz, meine Meinung nicht äußern zu dürfen.“
Dr. Ohio konnte sich noch gut daran erinnern, dass es einiger Diskussionen bedurft hatte, bis Höpfner überhaupt eingesehen hatte, dass Meinungen in einem japanischen Haiku nicht gefragt waren, dass allein Sinneseindrücke über die Natur zählten. Wie die Leser das interpretierten, stand natürlich auf einem anderen Blatt. Und auch hier waren im Laufe der Jahrhunderte, die diese Gedichtform existierte, die Grenzen ausgefranst.
„Tja. Ich habe mich zurzeit viel mit Meinungen und Einschätzungen auseinanderzusetzen“, fuhr Höpfner fort. „Und ich war der Versuchung nahe, mein Testament in der Form von Haikus aufzusetzen.“
Dr. Ohio musste wieder lachen und schüttelte den Kopf. Manches an der westlichen Welt würde er wohl nie verstehen, auch wenn er noch so lange hier leben würde. Oder waren es die Spleens reicher Leute, die er nicht verstand?
„Es wären keine Haikus mehr, fürchte ich“, meinte er amüsiert.
„Das ist wahrscheinlich.“ Höpfner lachte auch. „Ich bin eben doch kein Schreiber, sondern Händler. Was es mir nicht erspart, meinen letzten Willen aufzuzeichnen.“
„Gibt es einen bestimmten Anlass?“, fragte Dr. Ohio vorsichtig. Höpfner hatte noch nie über ein Testament geredet und Ohio sah auch keine direkte Veranlassung dazu. Er hatte sich noch nie in die Privatangelegenheiten Höpfners eingemischt.
Höpfner beugte sich über den Tisch und sah ihn lange an. Dann winkte er ab.
„Ich muss es einmal machen ... meine Dinge ordnen“, sagte er ernst. „Es liegt einiges im Argen bei mir, Altlasten sozusagen. Etwas, das ich, glaube ich, wiedergutzumachen habe, nachdem ich mich lange Zeit um nichts und niemanden gekümmert habe.“ Er machte eine Pause und sah Dr. Ohio forschend an. „Ich habe eine Schwester gehabt ... Martha. Sie ist schon vor einiger Zeit gestorben. Aber sie hat zwei Söhne hinterlassen ...“ Er gab sich einen Ruck und über sein graues, großes Gesicht zog sich langsam ein breites Lächeln. „Sie glauben gar nicht, wie
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