Dr. Ohio und der zweite Erbe
hob die Hand. „Eins nach dem anderen. Also: Es handelt sich um Karl Schmidt, den sein Chef und die Kundschaft hier nur Schmidt nennen. Ich habe beim Landratsamt, dem Standesamt und diversen anderen Ämtern unter dem Mädchennamen der Mutter – Höpfner – und ihrem angenommenen Namen nach den Söhnen gesucht und bin bei Schmidt – Karl – ziemlich schnell fündig geworden.“
„Er müsste doch irgendwie von der Erbschaft Wind bekommen haben. Er wohnt ja keine 20 Kilometer weg von seinem Onkel“, warf Erika ein. Laudtner hob die Hand.
„Da ist der Haken“, sagte er und lächelte Erika gönnerhaft an. Sie verzog den Mund und sah zur Seite. „Seine Karriere ist deshalb über die Ämter so leicht nachzuvollziehen, weil er fast immer sozusagen von ihnen betreut oder zumindest unterstützt wurde. Seine Karriere “, er betonte das Wort besonders, „war lange Zeit geprägt von Heimen und Werkstätten. Behindertenwerkstätten.“
Dr. Ohio traute seinen Ohren nicht. Höpfner hatte einen behinderten Neffen gehabt und sich all die Jahre nicht ein bisschen um ihn gekümmert? Altlasten, dachte er. Plötzlich bekam das, was Höpfner damals in der „Träumenden Taube“ gesagt hatte, einen Sinn.
„Sie sagen ,lange Zeit’ “, sagte er dumpf. „Und dann? Von was ist sein Leben jetzt geprägt?“
„Tja. Irgendwann muss ein Sozialarbeiter der Meinung gewesen sein, dass Schmidt – Karl – doch auch gut auf sich allein gestellt leben könnte. Er hat ihn an den Optiker hier als billige Arbeitskraft vermittelt, und seit einiger Zeit arbeitet er wohl hier. Führt einfache Handlangerdienste aus, sortiert Brillen ein, Kontaktlinsen und so weiter.“
Die Art, wie Laudtner das sagte, ließ Dr. Ohio stutzig werden.
„Was stimmt damit nicht?“, fragte er misstrauisch.
„Es wäre bestimmt sehr lustig, wenn es nicht so tragisch wäre und eine Vielzahl von Unfällen nach sich gezogen hätte“, sagte Dr. Laudtner, und man sah ihm an, dass er die Sache trotz ihres offenbar tragischen Gehalts sehr komisch fand. „Aber so, wie es aussieht, hat Schmidt über einen längeren Zeitraum Kontaktlinsen mit einer bestimmten Dioptrienzahl in die falschen Hüllen abgepackt. Und dann haben die Käufer ...“ Dr. Laudtner schluckte leer und bekam Tränen in die Augen, als habe er sich verschluckt. Er konnte sich nicht mehr beherrschen und stieß ein kreischendes, lautes Kichern aus. „Ist das nicht zum Schießen? Ist das nicht ...“ Er hielt sich krampfhaft die Seite. Aber das währte nur kurz, dann hatte der Anwalt sich sofort wieder im Griff. Beinahe jedenfalls.
„Entschuldigung“, keuchte er ein bisschen außer Atem, „Entschuldigung. Das ist nicht zum Lachen, aber ich ...“ Er stieß wieder einen kleinen Jauchzer aus. „Ich musste mich so lange beherrschen, als die Polizei hier war.“ Wieder traten ihm Tränen in die Augen. Seine Nase begann zu laufen, aber er hatte sofort ein großes Taschentuch zur Hand, um die Feuchtigkeit abzutupfen. Dann räusperte er sich. „Er hat also falsche Kontaktlinsen in die Behälter gepackt“, sagte er dann ruhiger. „Die Polizei nimmt an, dass das der Grund für die Vielzahl an Verkehrsunfällen in dieser Gegend ist. Und tatsächlich haben die Unfälle zugenommen, seit Schmidt bei dem Optiker aushilft. Sie haben den Leuten gesagt, das Auge müsste sich erst an die Linse gewöhnen ...“
Dr. Ohio hatte die roten Augen, die laufende Nase und den Heiterkeitsausbruch des Anwalts ohne erkennbare Regung aufgenommen. Erika zog verächtlich eine Augenbraue hoch und sah wieder zur Seite. Man kommt sich vor wie bei der Inquisition, wenn man den beiden gegenübersteht, dachte Dr. Laudtner. Dr. Frankenstein und sein Monster. Nicht dass ihn solche Leute beeindruckt hätten. Die Zeiten waren lange vorbei, in denen Dr. Laudtner sich von jemandem beeindrucken ließ, es sei denn, es ging um körperliche Vorzüge.
„Wo ist denn Karl Schmidt jetzt?“, fragte Dr. Ohio ruhig.
„Die Polizei hat den Optiker und den Gehilfen nach Tübingen aufs Revier mitgenommen. Es wird wohl eine Anzeige gegen beide erfolgen. Damit ist nicht zu spaßen. Natürlich werde ich Schmidt vertreten“, sagte Dr. Laudtner. „Und auch den Optiker, wenn er es wünscht. Ich habe nur noch auf Sie gewartet, Dr. Ohio. Und auf Sie natürlich.“ Er lächelte Erika an, die gleichgültig nickte.
„Aber, Doktor, ich fürchte, ich muss mit Ihnen etwas unter vier Augen besprechen. Doch das hat noch Zeit. Vielleicht sollten wir
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