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Dr. Ohio und der zweite Erbe

Dr. Ohio und der zweite Erbe

Titel: Dr. Ohio und der zweite Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Stichler
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verstehen?“ Er zwinkerte Wieri vielsagend zu. Dann ging er zu seinem Wagen, um den Rest des Abends in angenehmerer Gesellschaft zu verbringen.
    Wieri sah ihm nach und zog verächtlich die Nase hoch.
    „Mit welch elendem Geschmeiß man sich abgeben muss. Aber es ist für einen guten Zweck“, knurrte er leise. Der Zweck heiligt die Mittel, in diesem Fall im wahrsten Sinne des Wortes, dachte er. Dann ging er im Schatten der Häuser mit hängenden Schultern nach Hause.
    Ohio betrachtete das Bild mit den Jungen. Es war etwas vergilbt und an den Ecken abgewetzt. Der mit der Brille sah milde und etwas neugierig in die Kamera und lehnte sich gegen seinen Bruder, der ihn an der Hand hielt und ihn zu beschützen schien. Na, ihr Rotzlöffel, dachte Dr. Ohio und legte das Foto schnell beiseite, als Erika in sein Behandlungszimmer trat.
    „Doktor, Walton ist schon wieder draußen. Er hat zwar keinen Termin, sagt er, aber er müsse Sie dringend sprechen.“
    Dr. Ohio sah zur Seite auf den cremefarbenen Fußboden. Müsste mal wieder gereinigt werden, dachte er. Auf dem Teppich hatten sich dort helle Flecken gebildet, wo die Möbel standen.
    „Walton“, sagte er nachdenklich. „Was halten Sie von dem Mann, Erika?“
    „Ich?“, fragte Erika irritiert. Es kam nicht oft vor, dass Dr. Ohio sie nach ihrer Meinung zu einem speziellen Patienten fragte. Man konnte diese Frau nicht leicht irritieren, aber ab und zu schaffte Ohio es. Und es freute ihn jedes Mal, wenn es ihm gelang. Erika hatte sich freilich schnell wieder im Griff.
    „Wenn Sie mich fragen, ist dem ziemlich langweilig“, sagte sie. „Deshalb sitzt er die ganze Zeit hier rum.“
    „Den meisten Leuten hier ist langweilig“, erwiderte Ohio. „Sie sind es gewohnt, die ganze Zeit etwas zu tun zu haben. Und hier sind sie – möglicherweise das erste Mal seit ihrer Kindheit – auf sich allein zurückgeworfen. Sie haben Zeit für sich. Sie könnten denken ..., sich auf Wesentliches konzentrieren. Aber es ist eine Frage der Definition, was wesentlich ist. Und wie soll ein Mensch, für den zeit seines Lebens die Geschäfte, seine Stellung, der Grad der Anerkennung das Wesentliche waren, auf einmal mit sich selbst klarkommen? Er definiert sich nur über Äußerlichkeiten.“
    „Walton?“
    „Die meisten hier.“ Dr. Ohio machte eine Pause. „Die Deformation ihrer Seelen liegt meist an einem katastrophalen Selbstbild, sofern überhaupt eines da ist, und aufgrund dessen an einer völlig falschen Einschätzung ihrer Wirkung in der Öffentlichkeit. Das bringt Neurosen, Psychosen und Wahnsinn mit sich. Wir sollten es vielleicht einmal mit einem Rorschachtest versuchen.“
    „Psst. Doktor“, flüsterte Erika entsetzt und zog die Tür hinter sich zu. „Sie wissen doch ganz genau, dass dieser fragwürdige Test in Deutschland, ach was, in ganz Europa kaum noch zur Anwendung kommt. Für einen Mann Ihres Rufes wäre es verheerend, ihn einzusetzen.“
    „Ach was.“ Dr. Ohio winkte ab. „Es ist eine Methode, die zusätzlich zu anderen sehr wohl hinzugezogen werden kann.“
    „Das ist ..., ach Doktor. Das ist ... nicht wissenschaftlich.“
    „Hören Sie, meine Liebe: In Amerika werden diese Tests verwendet, sogar seitens staatlicher Institutionen, das wissen Sie ganz genau. Ich weiß nicht, aufgrund welcher Aversionen Sie sich so sträuben ...“
    „Und Sie wissen, dass es an dieser Klinik nicht erwünscht ist“, unterbrach ihn Erika resolut. „Wir haben diese Diskussion schon so oft geführt. Es handelt sich um Klecksbilder. Ein Verfahren, das aus den Tintenklecksen eines schwäbischen Schriftstellers hervorgegangen ist. Wenn die Amerikaner auf diese Weise den Geisteszustand ihrer Bevölkerung testen wollen, bitte.“
    „Ich weiß“, seufzte Dr. Ohio. „Aber ... Walton ist Engländer.“
    Seine Gehülfin verdrehte die Augen. Dr. Ohio sah sie einen Augenblick starr an.
    „Na ja.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe jetzt keine Zeit. Meiner Meinung nach sitzt er die ganze Zeit wegen Ihnen im Sprechzimmer herum.“
    Das Telefon klingelte. Dr. Ohio deutete darauf, als sei das die Bestätigung, dass er unabkömmlich sei, und nahm ab.
    „Dr. Ohio“, sagte er. Erika sah ihn einen Augenblick streng an, dann verließ sie das Zimmer, um den gelangweilten Engländer abzuwimmeln.
    „Dr. Ohio“, drang Dr. Laudtners etwas rau und heiser wirkende Stimme aus dem Hörer. „Wie geht es Ihnen? Ich wollte mich nur mal kurz erkundigen, wie es mit Ihrer Erbensuche so

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