Dr. Ohio und der zweite Erbe
nervös Wieri auf einmal geworden ist, als er erfahren hat, dass ich an meinem Testament rumdoktore.“
Dr. Ohio hatte geschmunzelt und das Thema, soweit er sich erinnerte, nicht weiter vertieft. Das war im Winter gewesen und wenig später waren sie über das regennasse, leicht gefrorene Kopfsteinpflaster der schmalen Tübinger Gassen zur Tiefgarage am Nonnenhaus zurückgeschlittert, den Mantel mit der Hand vorne zusammengerafft, und Höpfner hatte ihn nach Hause gefahren. Seufzend fuhr Ohio sich durch die Haare und warf Erika einen Blick zu, die neben ihm im Auto saß und den Wagen über die schmale Landstraße steuerte. Er fragte sich, ob die Sache mit dem Testament bei Wieri vielleicht mehr ausgelöst hatte als nur einen kleinen Schrecken. Die Unterhaltung mit Höpfner war ungefähr ein halbes Jahr alt und erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass er damals seine Schwester und die zwei Neffen erwähnt hatte. Gab es noch mehr solcher Unterhaltungen, die ihm nicht weiter wichtig vorgekommen waren und die Hinweise auf den Aufenthaltsort der Erben liefern konnten? Ohio blieb nichts anderes übrig, als zu warten, ob seine Erinnerung noch mehr Informationen ausspucken würde.
Immerhin, vielleicht war das Warten und Suchen auch schneller vorbei, als gedacht. Seit seinem Telefonat mit Dr. Laudtner waren einige Tage ins Land gegangen. Es war seitdem nicht viel passiert, außer dass es stetig wärmer geworden war. Aber heute hatte der Anwalt angerufen. Sie waren in Lustnau verabredet, einem kleinen Vorort von Tübingen, der seit einiger Zeit aufgrund einer gehäuften Anzahl von Verkehrsunfällen negative Schlagzeilen in der Presse machte. Laudtner hatte dort nach eigenen Worten eine heiße Spur aufgetan.
Sie kamen von Bebenhausen und Erika bog rechts ab auf die Wilhelmstraße, einen doppelspurigen Zubringer von der Bundesstraße, der im kleinen Lustnau völlig überdimensioniert wirkte. Nach wenigen hundert Metern parkte sie ihren kleinen Wagen vor der angegebenen Adresse. Es handelte sich um ein Optikergeschäft, das aussah, als wäre es direkt aus den 60er-Jahren hierhergebeamt worden. Über der Tür hing eine alte Leuchtreklame in Form einer dicken Brille. Die kleinen Schaufenster waren staubig. Neben ein paar ohnmächtigen oder bereits verstorbenen Fliegen lagen einige altertümliche Gestelle. Wahrscheinlich war es der einzige Laden im Umkreis von 200 Kilometern, in dem noch die klassischen Hornbrillen-Kassengestelle zu haben waren.
Als Ohio und Erika das Geschäft betraten, waren sie überrascht, wie sauber und aufgeräumt die Verkaufsräume waren. Das Glas der Vitrinen und Schaukästen glänzte, eine dezente Hintergrundbeleuchtung erhellte die ausgestellten Brillen. Trotzdem wirkte der Raum schummrig. An den Wänden waren mehrere Spiegel angebracht, die das Licht eher zu schlucken schienen, als es zu reflektieren. Dr. Ohio hatte das Gefühl, dass hier nicht jeder das tat, was er tun sollte. Das stellte sich schnell als richtig heraus, denn weder der Optiker, der das Geschäft führte, noch sein Gehilfe waren anwesend. Stattdessen erschien, kurz nachdem eine schrille Türklingel Dr. Ohios und Erikas Kommen angemeldet hatte, Dr. Laudtner in einer Tür, die zum Keller führte. Er klopfte sich die Hände ab, als hätte er etwas Staubiges angefasst, und kam dann auf die beiden zu.
„Doktor ...!“, rief er und senkte dann etwas die Stimme, als er Erika die Hand gab: „Und Frau ...?“
„Meine Assistentin“, stellte Dr. Ohio Erika ungerührt vor und hatte scheinbar ihre Begegnung bei der Beerdigung Höpfners vergessen. Erika nickte gleichgültig.
„Die Assistentin, ja“, sagte Dr. Laudtner, als erinnere er sich erst jetzt wieder an sie.
„Dr. Laudtner, Sie hatten es so eilig. Was ist denn passiert?“, unterbrach Dr. Ohio den Anwalt. Ein Lächeln glitt über dessen Gesicht.
„Ja, wie ich sagte, Doktor. Ich benachrichtige Sie, sobald wir etwas gefunden haben. Bingo. Wir haben etwas gefunden. Beziehungsweise jemanden. Nämlich den ersten Erben.“ Er machte eine Pause, um Dr. Ohios Reaktion abzuwarten.
„Wie bitte?“ Dr. Ohio runzelte die Stirn und Erika bekam große Augen. „Sie haben ihn gefunden? Welchen der beiden?“
„Karl Schmidt. Sie sind allerdings ein bisschen zu spät gekommen. Er und der Optiker wurden eben aufs Polizeirevier gebracht.“
„Aufs Polizeirevier? Was hat die Polizei mit der Angelegenheit zu schaffen?“ Ohio verstand gar nichts mehr.
„Moment, Moment!“, rief Dr. Laudtner und
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