Dr. Ohio und der zweite Erbe
trug ausgewaschene Jeans und eine etwas zu enge Bluse und begrüßte ihn wie immer, ganz gleich, ob im Sanatorium oder hier im Hotel, mit einem munteren „Guten Morgen, Doktor“, als er aus dem Aufzug kam. Dr. Ohio mochte es gern, es klang immer ein bisschen überrascht. So als hätte sie ihn jetzt nicht erwartet, würde sich aber sehr freuen, ihn zu sehen. Er atmete auf. Er hatte befürchtet, der gestrige Abend hätte vielleicht etwas zwischen ihnen verändert. Aber das war nicht der Fall. Warum auch, fragte er sich. Es war ja nichts vorgefallen, und solange das so blieb, warum sollte sich etwas ändern? Er bekam wieder schlechte Laune, die sich erst während ihres ausgiebigen Frühstücks besserte.
„Ja, fresst nur“, flüsterte Värie Wieri hasserfüllt und befeuchtete sich an der Bar die Lippen mit bitterem Kaffee. Das Hotel war ausgebucht, er hatte kein Zimmer mehr bekommen und zu viel Angst gehabt, in ein anderes Hotel zu gehen. Wer wusste denn schon, was Ohio und seine Assistentin planten? Also hatte er, in seinen Mantel gewickelt, eine ungemütliche Nacht im Park gegenüber verbracht und die Eingangstür des Hotels nicht aus den Augen gelassen, sieht man einmal von den wenigen Augenblicken ab, in denen ihm die Lider heruntergesunken waren und er in einen unruhigen, hektisch blitzenden Sekundenschlaf gefallen war.
Jetzt saß er mit brennenden, roten Augen an der Bar und stippte ein Croissant in den Kaffee. Bitter, alles bitter, dachte er und wurde von einem kleinen Schauder überlaufen, der ihm noch vom feuchten, kalten Parkboden anhaftete. Ach, die Prüfung war hart, sie wurde immer härter. Was denn? Wollte er sich wegen einer solchen Lappalie selbst bemitleiden? All das folgte doch dem Plan, war ihm vorherbestimmt, gehörte dazu und steigerte seine Entschlossenheit, seine Kaltblütigkeit und seine Überzeugung nur noch. Wer würde aus dieser Prüfung hervorgehen im Glanz einer neuen Christenheit? Kein Höpfner, kein Schmidt und erst recht kein Dr. Ohio. Er lachte etwas zu laut, als er an Höpfner dachte. Nein, er, Värie Wieri, würde als der Erneuerer des Glaubens gefeiert werden. Mit glänzenden, fiebrigen Augen bestellte er noch eine Tasse Kaffee.
Dr. Ohio und Erika erhoben sich und gingen ohne Eile zum Ausgang. Natürlich, dachte Wieri, ausgerechnet jetzt, wo ich eben noch eine Tasse Kaffee bestellt habe. Ach, das gehörte alles dazu. Nichts würde vergessen werden, so viel war sicher. Er knurrte in sich hinein und folgte den beiden. Sie schlenderten die Straße entlang zur Avenue de Champagne. Es war ein warmer Tag und die Sonne drang langsam durch den morgendlich bedeckten Himmel.
„Also gut“, sagte Dr. Ohio. „Ich werde mit ihm über seinen Bruder sprechen. Ich habe es Ihnen schon gestern versprochen, wenn ich mich nicht täusche. Aber ich werde nicht versuchen, ihn zu überreden.“
„Na ja, das mache ich dann schon“, sagte Erika gut gelaunt. Dr. Ohio blieb stehen und sah sie ernst an, aber seine Gehülfin ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn einfach weiter.
„Keine Sorge, Doktor, es wird schon alles gut gehen. Und Boris hat ja nicht gerade den Eindruck gemacht, als wüsste er nicht, was er wollte.“
Dr. Ohio zog die Augenbrauen hoch und seufzte ergeben. Weder er noch Erika bemerkten den schwarzen Schatten, der ihnen folgte.
Sie bemerkten ihn auch nicht, als sie sich in die Besucherschar bei Mercier einreihten, um die Führung von Boris mitzumachen. Mercier besaß einen 18 Kilometer langen Keller. Die Gänge waren in den weichen Kreideboden geschlagen worden und lagen bis zu 30 Meter tief unter der Erde.
„Es ist wirklich beeindruckend“, sagte Boris, der sie entdeckt hatte und zu ihnen gekommen war. „Auch wenn die Aufmachung manchmal ... nun ja ... ein wenig kitschig ist. Aber Sie werden es ja sehen.“
Dr. Ohio hatte den Eindruck, dass er sich wirklich freute, ihn und Erika zu sehen. Er nickte zerstreut und nahm ihn beiseite.
„Hören Sie, wir haben doch noch fünf Minuten Zeit? Ich habe noch einen Punkt, über den ich gern mit Ihnen reden möchte.“
Boris’ Miene wurde verschlossen, aber er fing sich gleich wieder.
„Sicher“, sagte er kühl und warf einen Blick hinüber zu Erika, die ihm aufmunternd zulächelte, aber stehen blieb. Sie gingen ein paar Schritte nebeneinander her, bis sie hinter einem riesigen Holzfass, das die große Empfangshalle dekorierte, ein ruhiges Eck fanden.
„Tja, wissen Sie“, begann Dr. Ohio
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