Dr. Ohio und der zweite Erbe
Kronen das dunkle Blau des Nachthimmels abschotteten und die undeutlich funzelnden roten Rücklichter von Boris’ Wagen. Angespannt sah Wieri nach vorne, mit der Hand umklammerte er den Revolver, der in seiner Manteltasche steckte. Seine Hand war schweißfeucht, aber er bemerkte es nicht. Irgendwann, dachte er, irgendwann muss er doch mal anhalten.
Sie fuhren schon bald eine halbe Stunde hinter Boris her durch die Nacht. Sie hatten die Vororte passiert und waren hinaus aufs offene Land gefahren. Die Straßen wurden enger und die Wälder rückten näher. Werbeschilder flogen vorbei, mit lachenden Mündern und sprudelnden Gläsern voller Champagner, teilweise schäbig und abgewetzt, aus einer anderen Zeit, teilweise neu, vom Scheinwerferlicht glänzend widergespiegelt. Niedrige, graue Mauern kleiner Weingüter glitten vorüber und einige ehemals herrschaftliche Villen und Schlösser, umringt von hohen Mauern.
An einer dieser Mauern fuhren sie jetzt schon einige Zeit entlang und sie musste bald zu Ende sein. Zu Ende, um ein neues Waldstück und dann eine neue Mauer beginnen zu lassen. Er wird doch nicht immer nur einfach geradeaus fahren, dachte Wieri und überlegte, ob Boris etwa Lunte gerochen und bemerkt hatte, dass er verfolgt wurde. Die Rücklichter leuchteten rot auf, dann verschwand erst eines, dann das zweite. Dunkelheit. Boris musste abgebogen sein. Endlich, dachte Wieri und schluckte leer. Sein Mund war trocken, seine Augen starrten Löcher in die Dunkelheit, bis bunte Punkte darin zu tanzen anfingen.
„Schneller“, krächzte er heiser, aber der Fahrer reagierte nicht.
Wieri hatte sich entschlossen, Boris aus dem Weg zu schaffen. Er hatte immer geahnt, dass es dazu kommen würde, aber er hatte nie darüber nachgedacht. Der Weg zum Heil war steinig und es gab keinen Grund, warum er den Kelch nicht würde austrinken müssen. War es jemals leicht gewesen, den Menschen den wahren Glauben zu bringen? Man musste sie zu ihrem Glück zwingen, und nur wenigen war die Kraft gegeben, die Weitsicht und die Gelegenheit, sie auf ihrem Weg ein Stück näher zu Gott zu bringen. Dass Wieri dafür eventuell einen Menschen ziemlich abrupt in die Nähe seines Gottes befördern musste, hielt er für unerlässlich und bestenfalls für eine Probe der Festigkeit seines Glaubens. Was sollte er schon anderes tun? Seit Jahrhunderten schon warteten die Menschen auf ihren Erlöser. Jahr um Jahr, Stunde um Stunde musste die Kirche zusehen, wie Zweifler, sogenannte Denker, Philosophen, Analytiker, Skeptiker und Naturwissenschaftler ihr Schritt für Schritt den Boden abgewannen, den sie doch über Jahrhunderte mit dem fetten Dünger des Heilsversprechens im Jenseits beackert und von dem sie ungezählte Seelen abgeerntet hatte.
Die wahre Lehre jedoch, dachte Wieri, und manchmal versponnen sich seine Sinne in den alten Schriften, die er jetzt jahrelang im Auftrag Höpfners und dann im Auftrag des Herrn durchforstet hatte, die wahre Lehre jedoch hat niemand je gehört. Die wahre Lehre bringe ich, den Menschen ein gottgefälliges Leben und Gott die Verehrung, die ihm zusteht. Gott ist keine Marionette, die dem menschlichen Willen und der Profitgier unterworfen ist. Die Menschen müssen wieder den Regeln Gottes gehorchen, nicht andersherum.
Was war das Leben eines Mannes, wenn dafür ein ganzes Volk, die ganze Menschheit gerettet würde? Värie Wieri war ein Philanthrop, er liebte die Menschen, er liebte den gläubigen Menschen. Alle anderen waren sowieso verdammt. Boris bedeutete lediglich den Anfang. Ein kleines, ein läppisches Opfer, nicht der Rede wert. Der Weg ist hart und steinig und er wird steinig bleiben, dachte Wieri. Aber am Ende steht das geheiligte Werk der Appendisten, leuchtend und klar sah er es vor sich, im goldenen Schein der ...
„Der Wagen ist weg“, sagte der Taxifahrer. Wieri saß ihm im Nacken wie eine kleine Schlange mit einem großen Kopf und starrte mit brennenden Augen weiter in die Dunkelheit. Er hatte nichts gehört und sah nichts mehr.
„Der Wagen ist weg“, sagte der Fahrer noch einmal, dieses Mal lauter, und drehte sich halb zu Wieri um. Er erschrak, als er in das verzerrte, bleiche Gesicht des Calvinisten blickte, dessen Augen ins Jenseits zu starren schienen. Abrupt bremste er ab und blieb stehen.
„Hören Sie“, sagte er laut, und ein schriller Ton in seiner Stimme deutete eine aufkommende Panik an. „Ich fahre jetzt nicht weiter. Da vorne ist kein Auto mehr. Der Wagen ist weg. Wo wollen Sie
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