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Dr. Ohio und der zweite Erbe

Dr. Ohio und der zweite Erbe

Titel: Dr. Ohio und der zweite Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Stichler
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um Boris ins Visier zu bekommen. Dann drückte er ab.
    Aber, ach, die Nerven. Gott würde ihm schon die Hand führen, hatte er gedacht, aber nicht daran, dass Gott es seinen Schützlingen oftmals nicht leicht macht. Außerdem: Die Hand führen vielleicht, aber die Waffe entsichern? Das musste er schon selbst machen. Wieri war müde, überreizt und aufgedreht zugleich nach der im Freien durchwachten Nacht, und auch die Anspannungen der letzten Tage waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Seine Augen fühlten sich an, als würden sie groben Sand mahlen, und seine Schulter schmerzte vom Liegen auf dem kalten Boden letzte Nacht. Er zerrte an einem kleinen Hebel herum, um die Waffe zu entsichern, schaffte es, aber da war die Bahn schon fast vorbei. Trotzdem legte er an und feuerte einmal, zweimal, dreimal auf Boris. Die Schüsse hallten durch die Gänge, waberten in den Gewölben. Es war, als teilten sie sich, und jedes Echo eines Schusses suchte sich einen anderen Weg, um die gesamten 18 Kilometer des Kellers mit diesem hässlichen Donner bis in den kleinsten Schlupfwinkel verschimmelter Spinnen auszufüllen.
    Einige Sekunden lang war es das einzige Geräusch, das zu hören war. Dann kreischten Bremsen und Menschen gleichzeitig los. Wieri, der kurz versucht hatte zu erkennen, ob er getroffen hatte, verschwand in seinem Tunnel und rannte, egal wohin. Hauptsache weg. Er konnte sich auch später noch darum kümmern, wie er hier wieder herauskam. Also bog er ab, hinein in die dunklen Gänge, bei denen man nie sicher sein konnte, ob einfach das Licht fehlte oder ob es sich um schwarze Materie handelte, die einen zäh aufnehmen und langsam ersticken würde, sobald man in sie hineinrannte.
    Als Wieri das Gefühl hatte, dass seine eigenen Schritte lauter waren als jedes andere Geräusch in seiner Umgebung, blieb er stehen. Im selben Moment wurde er sich seiner unwürdigen Flucht bewusst. Warum musste er überhaupt wegrennen? Nun gut, dachte er, das Gesetz, auch Gottes Gesetz. Aber für den Fortschritt, den Glauben waren immer Opfer nötig gewesen und ... Er fragte sich ernsthaft, ob er nicht lieber vor die Menge hätte treten sollen, um zu ihnen zu sprechen. Aber langsam wurde sein Gehirn nach der psychischen und physischen Anstrengung wieder mit Sauerstoff versorgt und ihm wurde klar, dass das wohl ein Fehler gewesen wäre. Zuerst brauchte er auf jeden Fall das Buch. Und warum Boris gestorben war ... Von ihm aus konnte das in den Gründungsmythos der Appendisten einfließen, ihm war es egal. Er würde nur milde dazu lächeln. Denn im richtigen Rahmen sollte auch die Milde ihren Platz in seiner neu entstehenden Gemeinschaft finden.
    Wichtiger als das war jetzt allerdings herauszufinden, ob Boris auch wirklich gestorben war. Und dazu musste Wieri unerkannt aus dem Kellergewölbe entfliehen. Er sah sich um. Die Schwärze war vollkommen, bis auf einen weißen Punkt hinter ihm, der wahrscheinlich einen beleuchteten Tunnel darstellte. Vorsichtig tastete Wieri sich vorwärts und fragte sich, wie er nur mit so einem Affenzahn hier hereingerast sein konnte, ohne sich anzustoßen oder gegen die nächste Wand zu rennen. Es war feucht, ab und zu platschte es leise unter seinen Füßen und seine Hand streifte an der kühlen Wand entlang – er wollte nicht wissen, welches Getier an den Mauern lauerte.
    Wie ein Wetterumschwung in Jakarta kippte plötzlich sein Zustand. Gerade noch war er außer Atem gewesen, erhitzt, erregt. Jetzt, im Dunkeln, seinen mutmaßlichen Verfolgern vorerst entronnen, überkam ihn ein Frösteln, seine Zähne schlugen klappernd aufeinander, er fühlte, wie die Feuchtigkeit durch seinen Mantel kroch, als wäre er gar nichts, er spürte, wie sein Atem vor ihm kondensierte, ohne es zu sehen. Seine Wangen waren kalt, Wieri fuhr mit einer Hand darüber und spürte sie kaum. Er war in einen schwarzen, blinden Herbst eingesperrt und das Licht da vorne flackerte nur, klein und dünn. Er atmete schwer, als würde den Tunneln die Luft ausgesaugt und als füllten seine Lungen sich immer mehr mit Feuchtigkeit anstatt mit Sauerstoff. Aber das Licht wurde größer, langsam, es war wieder da und führte ihn.
    Und tatsächlich, mit letzter Not erreichte er den Hauptgang mit den Schienen. Die Luft war ihm wunderbarerweise nicht ausgegangen in den dunklen Gewölben. Sein Mantel war an der Seite mit Spuren eines schmierigen, grauen Films beschmutzt, auch seine Finger trugen Spuren der Kreidewände. Die Kälte steckte ihm in allen

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