Dr. Ohio und der zweite Erbe
hatten die ganzen Tage nie über ihre Arbeit gesprochen, und auch nie über sich. Jetzt erzählte ihm Erika, dass sie ihr Medizinstudium hingeschmissen und später eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin gemacht hatte. Ohio fragte nicht, warum sie ihr Studium aufgegeben hatte. Er stellte erstaunt fest, dass er es gar nicht wissen wollte. Er genoss einfach – die Frage, ob das auch am Champagner lag, stellte er sich erst später –, dass sie da war.
Spät in der Nacht waren sie zusammen zum Aufzug gegangen. Erika hatte sich bei ihm untergehakt und er konnte ihre weichen, vom Wein etwas trägen Bewegungen spüren und ihren Duft riechen, einen leichten Hauch ihres Parfums, das fast verflogen war. Er brachte sie bis zu ihrer Zimmertür.
„Ja, dann ... Gute Nacht“, sagte sie zögernd, zog ihren Arm unter seinem hervor und schloss auf.
„Gute Nacht“, sagte er und spielte mit seinem Zimmerschlüssel. „Schlafen Sie gut.“
„Sie auch.“ Erika drückte kurz seine Hand und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Wange.
Unentschlossen blieben sie einen Augenblick stehen, dann lächelte Dr. Ohio, drehte sich um und ging den Gang entlang. Es kam ihm wieder so vor, als würde die Luft plötzlich um ein paar Grad abkühlen. Er wandte sich noch einmal zur Tür um und sah gerade noch, wie sie sich schloss. Sein Herz klopfte auf einmal laut. Aber, das bedeutet ..., dachte er. Doch der plötzliche Temperaturabfall hatte ihn ein bisschen ernüchtert. Er zögerte. Die Aufzugtür ging auf. Zwei Leute stiegen aus. Ein Paar, dachte Ohio. Sie sahen ihn verwundert an. Hatte er sie angestarrt? Er gab sich einen Ruck, ging zum Aufzug und fuhr in sein Stockwerk. Im Zimmer setzte er sich aufs Bett. Für wen spare ich mich auf, verdammt noch mal?, fragte er sich und ärgerte sich gleichzeitig maßlos über die Frage. Brigitte? Hatte sie ihn jemals in Betracht gezogen? War sie jemals in ihn verliebt gewesen? Doch ja, sagte er sich. Wahrscheinlich schon. Ganz kurz, ein ganz schmales Zeitfenster lang hatte die Chance bestanden, dass sie beide ein Paar werden. Vor 25 Jahren.
Dr. Ohio hatte sich rasiert und versucht, den leichten Kater unter der Dusche wegzuspülen. Er ging den langen Hotelkorridor entlang zum Aufzug. Weiter vorne sah er drei Männer in schwarzen Anzügen stehen. Die Tür zu einem der Zimmer stand offen und helles, weißliches Licht fiel auf den Teppich des Flurs. Als Ohio die Tür passierte, sah er automatisch hinein und stockte, nur kurz. Auf einem großen Bett saß eine junge Frau, nur spärlich eingehüllt in ein weißes Laken. Ihr schlankes Bein ragte bis zum Knie darunter hervor. Die Zehen waren mit rotem Nagellack lackiert, und das Betttuch war ihr halb über die rechte Brust heruntergerutscht. Die langen, schwarzen Haare fielen über ihre Schulter. Vor ihr stand ein kräftiger, älterer Mann, der sie anstarrte, wild auf sie einredete und ab und zu hinüber zur Badezimmertür zeigte. Dann gab er ihr einen Stoß gegen die Schulter und sie raffte das Tuch fester um sich.
Die Frau sah mit leeren, trotzigen Augen und angestrengt gerunzelter Stirn an ihm vorbei, so als sei er gar nicht vorhanden und als kämpfe sie mit einem imaginären Dämon, der sie quälte. Dabei fokussierte sich ihr Blick auf Dr. Ohio, der hinter den Männern in den schwarzen Anzügen vorbeiging. Er verzog die Mundwinkel zu einem entschuldigenden Lächeln. Sie schlug die Augen nieder und lächelte ebenfalls. Dann sah sie ihn wieder an, anders dieses Mal. Dr. Ohio warf einen Blick auf die Anzugträger und ging schnell weiter. Das Ganze dauerte nicht länger als zwei Wimpernschläge.
Ohio war unangenehm berührt. Was ging ihn diese Szene an? Sein Lächeln war ein Reflex gewesen, und die Frau hatte ihn missverstanden. Oder wollte sie ihn missverstehen? Ihr Lächeln war das der unausgesprochenen Komplizenschaft. Ihr war vielleicht die Szene peinlich, nicht aber die Sache an sich: Dass sie von ihrem Mann in flagranti mit einem Liebhaber erwischt worden war. Die Männer dagegen waren sehr aufgeregt. Allerdings machten sie auf Dr. Ohio den Eindruck, als ginge es dabei eher um eine Frage des Rechts auf einen Seitensprung als um den Vertrauensbruch selbst. Der Einzige, dem die Szene peinlich war, das war wohl er. Erika wartete unten in der Lobby und sah so frisch aus wie jeden Morgen. Das blonde Haar hatte sie streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, die blaugrauen Augen blickten Dr. Ohio klar und undurchdringlich an. Sie
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