Dr. Ohio und der zweite Erbe
hin? Oder soll ich Sie hier rauslassen?“
Wieri kam zu sich. Er schüttelte leicht den Kopf. Seine Züge entspannten sich und er rieb sich die Augen. Dann starrte er wieder nach vorne in die Dunkelheit. Kein Zweifel: Der Wagen war weg. Die roten Rücklichter waren nicht mehr zu sehen.
„Ist das zu fassen?“, zischte er. „Der Wagen ist wirklich nicht schnell gefahren und Sie verlieren ihn. Das ist nicht zu fassen.“
„Er ist um eine Ecke gebogen. Als wir dort angekommen sind, war er nicht mehr zu sehen“, verteidigte sich der Fahrer. „Ich bin noch eine Weile weitergefahren, aber es war nichts mehr zu sehen.“
Sie fuhren die Straße langsam zurück, aber sie konnten nichts entdecken. Das Auto war weg. Zwar gab es einige Einfahrten und kleine Abzweigungen auf Gehöfte, Wiesen und Felder, aber welche Boris genommen haben könnte, war unmöglich festzustellen.
Wieri saß düster grübelnd in die Lehne des Rücksitzes gedrückt, als sie nach Épernay zurückfuhren. Am ersten großen Kreisverkehr stieg er aus und der Fahrer machte, dass er wegkam. Wieri ging zurück zum East Western Hotel. Dort war es schon dunkel, nur in der Bar und in einigen wenigen Zimmern brannte noch Licht. Er durfte das Hotel jetzt nicht mehr aus den Augen lassen. Nur Dr. Ohio und seine Assistentin konnten ihn zu Höpfners zweitem Erben führen.
Boris ahnte nichts von seinem Verfolger und dem Glück, das er gehabt hatte, ihm entkommen zu sein. Er war in Gedanken versunken den Weg nach Hause zu seinem Wohnwagen gefahren und hatte den Wagen, der ihm so hartnäckig gefolgt war, gar nicht bemerkt. Seinen Peugeot parkte er unter dem alten Baum und dann stand er noch lange auf der großen Wiese, die von der langen, ziegelroten Mauer eingefasst war. Das Grundstück gehörte zu einer großen, alten Villa, die man über einen Fußweg erreichte und die im Besitz von Mercier war. Als Boris vor vier Jahren hier angekommen war, hatte man ihm erlaubt, seinen Wohnwagen in diesem Eck des Grundstücks aufzustellen, und seitdem lebte er hier.
Er starrte hinauf zu den Sternen im mondlosen Himmel. Das hatte ihm noch gefehlt. Nach all den Wanderungen, die er hinter sich hatte, all den vielen Orten, an denen er gewesen war, sollte er zurückkehren nach Deutschland und das Erbe seines ungeliebten Onkels antreten. Er sah hinüber zu seinem Wohnwagen, der an der Mauer zu lehnen schien, als ob er nicht mehr die Kraft hätte, auf Reisen zu gehen. Der dastand, als wolle er sagen: „Wir fahren doch nicht? Oder?“
„Keine Sorge“, flüsterte Boris und ging schlafen.
11
Ein sonniger Tag,
im feuchten Keller wühlen
Maden und Würmer
Die beschlagene Scheibe des Badezimmerfensters ließ das blasse Morgenlicht milchig erscheinen. Dr. Ohio stand vor dem Spiegel und betrachtete sein graues, altes Gesicht. Sie hatten viel getrunken. Mit der Hand fuhr er sich über die spärlichen Bartstoppeln, die während der unruhigen Nacht durch seine papierne Haut gebrochen waren. Er runzelte die Stirn und warf rasch einen Blick aus dem Badezimmer.
Nachdem Boris gestern gegangen war, hatte Ohio eine deutliche Erleichterung verspürt. Die Verpflichtung, in die Höpfner ihn gezwungen hatte, und der er sich nicht hatte entziehen können, war erledigt. Er hatte beide Erben aufgespürt. Was die zwei mit ihrem Erbe anfingen, war nicht seine Sache.
Ohio hatte noch eine Flasche Champagner bestellt, um mit Erika auf den guten Ausgang ihrer Reise anzustoßen. Seine Gehülfin war freilich anderer Ansicht.
„Was heißt hier guter Ausgang“, sagte sie entrüstet, als er das Glas hob. „Der eine kann nicht, der andere will das Erbe nicht antreten. Sie könnten bei Boris wenigstens noch den Bruder ins Spiel bringen.“ Sie verzog verächtlich den Mund. „Denken Sie an Laudtner.“
Dr. Ohio lächelte.
„Schmidt wird an der Sache nichts mehr ändern. Da bin ich sicher. Boris hat sich entschieden.“
„Trotzdem“, beharrte Erika halsstarrig. „Ich glaube, er entscheidet sich anders, wenn er seinem Bruder helfen kann.“
Ohio versprach ihr, es zu versuchen, obwohl er nicht begeistert war. Was sollte Boris mit dieser Information schon anfangen? Sie konnte höchstens dazu dienen, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, wo er keines zu haben brauchte. Sein Bruder war auch die letzten zehn Jahre, wahrscheinlich noch länger, ohne ihn ausgekommen. Warum sollte er das auf einmal nicht mehr schaffen?
Später, im schwimmenden Licht der Bar, betrachtete Dr. Ohio seine Assistentin. Sie
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